Auf die Größe kommt es an! Beim Marathon gilt dieser Satz. Allerdings verkehrt herum. Dort sind die Kleinen die Größten, weil ihre Körpergröße ein kritisches Maß nicht überschreitet. Warum es auf der 42,195 Kilometer langen Laufstrecke ein Vorteil ist, wenn man ein bisschen kleiner ist.

Klaus Molidor
Klaus Molidor


Also rechnet das Milchmädchen: Große Menschen haben lange Beine, machen dadurch größere Schritte und sind dadurch auch schneller. Warum sind sie dann auf der Marathondistanz nicht im Vorteil? Die Rechnung geht beim Gehen doch auf, wenn wir als 177 cm „große“ neben Zwei-Meter-Hünen in der Fußgängerzone spazieren. Immer ein bisschen hintennach, immer einen halben Schritt zu kurz. Warum war dann von den letzten fünf Marathon-Weltrekordhaltern nur einer mehr als 172 cm groß?

„Beim Laufen ist das anders als beim Gehen“, sagt Sportwissenschafter Kurt Steinbauer, selbst ehemaliger Leichtathlet und Trainer. Denn zum einen bedinge ein langes Bein nicht auch zwangsläufig einen langen Schritt. Der hängt auch in entscheidendem Maß von der Technik ab. „Rein physikalisch betrachtet müsste ein Läufer, der exakt dieselben Proportionen hat wie du, aber doppelt so groß ist, auch gleich schnell einen Marathon laufen“, sagt der Experte. Das ist aber nicht so. Weil: Das Gewicht verändert sich nicht im selben Maße wie die Größe. „Bei drei Prozent Größe steigt das Gewicht um neun Prozent.“ Dadurch muss der Läufer also mehr Gewicht mitschleppen, was mehr Energie kostet. Die Fußgröße spielt ebenfalls eine Rolle. „Weil sie nicht direkt proportional zu Gewicht und Größe mitwächst, muss der Fuß eines größeren und schwereren Läufers pro Quadratzentimeter eine stärkere Belastung aushalten“, erklärt Steinbauer ein weiteres Mosaiksteinchen im Gesamtbild. 

Nachteil Wärmetransport 
Dazu kommt auch die Temperatur. „Größere Menschen sind schwerer und erzeugen für die gleiche Geschwindigkeit mehr Energie. Es entsteht also mehr Wärme. Da mit mehr Größe zwar mehr Gewicht, aber nicht adäquat mehr Körperoberfläche dazukommt, können größere Läufer weniger Wärme abgeben. Sie brauchen damit also auch mehr Energie zur Kühlung.“ Auch auf diesem Sektor sind Kleine also im Vorteil. Und: Längere Beine bedeuten auch eine längere Pendelbewegung der Beine beim Zurückschwingen nach dem Schritt. „Dadurch wird ebenfalls mehr Energie verbraucht.“ Beim Marathontempo, das in der Weltklasse gelaufen wird, also um die 20 km/h spielt dann auch schon der Luftwiderstand eine Rolle. Breitschultrige 1,90-Hünen haben da mehr Angriffsfläche als die kleinen „Gazellen“ aus Kenia und Äthiopien – die aufgrund ihrer körperlichen Voraussetzungen überhaupt im Vorteil sind. Wer einmal hinter Sportlern aus dieser Ecke nachgelaufen ist, weiß: Sie haben unfassbar dünne Waden und einen kleinen, dafür sehr effizienten Wadenmuskel. „Das spart wieder Masse und Gewicht und dadurch Energie“, rechnet Steinbauer vor. „Je geringer die Wadenmuskulatur, umso weiter rückt der Schwerpunkt hüftwärts und desto weniger Energie braucht das Vor- und Rückschwingen.“ Gepaart mit extrem starken Sehnen können diese Läufer einfach viel mehr Gas geben als zum Beispiel Mitteleuropäer.

Die beruhigende Tatsache für die Großen: Der Leistungsunterschied macht trotz all der genannten Faktoren maximal zwischen drei und fünf Prozent aus. „Das ist im Spitzensport, wenn es um den Weltrekord geht, natürlich schon signifikant, beim Hobbysportler aber in Summe zu vernachlässigen.“ Weil das alles immer auf die Idealmaße gerechnet ist und Hobbyläufer – egal, wie groß oder klein sie sind – diesen Maßen ja selten entsprechen.

Womit wir beim Prototyp des Marathonläufers sind: „Die Statistik zeigt, dass eine Größe von 169, 170 Zentimetern bei einem Gewicht von 54 Kilogramm ideal ist.“ Österreichs Rekordhalter Günther Weidlinger erfüllt diese Zahlen exakt mit Leben und wiegt 54 Kilogramm bei 169 cm. Weltrekordhalter Eliud Kipchoge ist 167 cm groß und wiegt 56 Kilogramm. Und von den vier Vorgängern des Kenianers Dennis Kimetto, Wilson Kipsang, Patrick Makau und der Legende Haile Gebrselassie war nur Kipsang die Ausnahme von der Regel mit seinen 183 cm bei 62 Kilogramm Körpergewicht.

Eine Größe von 170 Zentimetern bei einem Gewicht von 54 Kilogramm ist ideal.

Kurt Steinbauer, Sportwissenschafter

Keine Ausreden
Theoretisch wäre es aufgrund der Energieersparnis besser, sogar noch kleiner zu sein. „Es gibt aber natürlich eine minimale Schrittlänge, die schon mit der Größe zusammenhängt.“ Deutlich unter 160 cm verkehrt sich der Vor- also wieder in einen Nachteil. Auch das Gewicht lässt sich nicht unendlich nach unten schrauben. „Die Spitzenathleten haben einen Body-Mass-Index von rund 18 bis 19. Das ist schon sehr wenig. Darunter bist du sehr infektanfällig und es fehlt dir die Substanz“, sagt Steinbauer. Unter einen Schnittpunkt von Größe und Gewicht zu kommen lohnt sich also nicht.

Und wie sieht das bei den Frauen aus? „Prozentuell ist der Abstand zwischen Mann und Frau beim Marathon gering“, erklärt Steinbauer. „Auch die schlanksten Frauen haben einen prozentuell höheren Körperfettanteil als Männer. Das wiederum reduziert die Sauerstoff-Aufnahmefähigkeit pro Kilogramm Körpergewicht.“

„Ausrede für Hobbysportler ist die Größe ganz sicher keine“, fasst Steinbauer zusammen. Der Effekt wirkt sich hauptsächlich ganz oben an der Weltspitze aus. „Wenn wir von einer Laufzeit um die 3:30 Stunden sprechen, so würde der Unterschied zwischen einem 170 cm und einem 195 cm großen Läufer keine 15 Minuten ausmachen.“ Überhaupt wird der Effekt kleiner, je langsamer das Tempo ist. Bei über vier Stunden fällt er also schon kaum ins Gewicht. „Es kann also durchaus jeder, der sich ordentlich vorbereitet, einen Marathon laufen“, sagt Steinbauer. „Egal, ob er oder sie 195 cm oder 160 cm groß ist.“ Außerdem geht es für uns alle außerhalb des Promilles an Spitzenläufern doch darum, die klassische Distanz und vor allem sich selbst zu überwinden.