Hanspeter Eisendle ist wohl das, was man ein „Urgestein“ nennt. Seit 50 Jahren klettert er durch die Dolomiten. Um dort immer wieder sein Glück zu finden.
Hanspeter, wie erinnerst du dich an deine Kindheit?
Wir verbrachten unsere Freizeit auf den Almen der Berge. Das sind schöne Erinnerungen, auch deshalb, weil ich meine Eltern dort besonders fröhlich erlebt habe.
Woran lag das?
Das urbane Umfeld bedingt, dass man sich Regeln anpasst und als Bürger funktioniert. Die Almen waren unser Freiraum.
Was hat dich höher in die Berge gezogen?
Ich befand mich unter der doppelten Obhut von Mutter und Schwester. Beide achteten darauf, dass es mir gutgeht. Aber das wollte ich nicht immer. Weil es bedeutete, dass ich von außen bestimmt werde. Meine kindliche Logik war: Wenn die Baumgrenze mit ihren Almen der Ort der Selbstbestimmtheit meiner Familie ist, dann muss mein Ort noch weiter oben sein.
Was hast du dort gefunden?
Die Leere, Menschenleere. Das ästhetische Erlebnis der Weitsicht. Aber auch das Ungewisse und zum Teil Unheimliche.
Mit zwei Schulkameraden stiegst du auf den Peitler Kofel, deinen ersten Dolomitenberg. Wie erinnerst du dich daran?
Von den Hausbergen aus gesehen war der Peitler Kofel ein verheißungsvoller Horizont. Die Strecke vom Bahnhof bis zum Gipfel war zu weit, also haben wir in einem Stadel übernachtet. Wenn man nicht im Bett liegt, ist die Nacht ein Abenteuer. Ich war damals 14 Jahre alt, diese Erfahrung hat mir gut gefallen. Es war ein Zusammensein und doch war jeder für sich.
War das so geplant?
Es war geplant, auf der Strecke einen Unterschlupf zu finden. Meine Eltern wussten aber nicht genau, wo. In den 60er-Jahren waren kleine Menschen noch nicht so behütet wie heutzutage. Aber die Welt hat sich auch verändert.
Von Sterzing aus hätte es den Weg an den Gardasee und ans Meer gegeben. Warum hat es dich in die Berge gezogen?
Die waren eben sichtbar. Ich hatte aber auch andere Sehnsuchtsorte, mich hat das Wort „Feuerland“ fasziniert. Später war ich dann auch wirklich dort. Im Kopf eines jeden Menschen entstehen Sehnsuchtsorte, die einen von zu Hause wegtreiben. Es ist wichtig, dass man solchen Gedanken nachgeht und Träume entstehen lässt.
In der Nordwestwand des Sass Pordoi gerietst du als junger Mann in eine Sackgasse. Was war passiert?
Es war eine Tour mit dem Namen „Fedele“. Da schien nachmittags so schön die Sonne rein, also wollte ich hoch. Ich war noch relativ unerfahren, geriet in eisige Kamine und musste wieder umkehren. Für mich war das ein Schlüsselerlebnis.
Wofür?
Während das Abstiegs habe ich gelernt, dass in uns, über den eigenen Intellekt hinaus, eine besondere Kraft wirkt. Die Ahnung, was alles in mir stecken könnte, von dem ich nichts weiß, wurde in diesen Stunden geboren. Es gab kaum einen anderen Moment, der sich so tief in mein Bewusstsein eingegraben hat, wie jener dieser ins Abendlicht getauchten Dolomitenwand.
Zwei Jahre nach deiner Ausbildung zum Bergführer lud Reinhold Messner dich zu einer Expedition an den Cho Oyu ein. Wie erinnerst du dich daran?
Es waren sehr starke Erfahrungen. Und wenn einen der erfahrenste Höhenbergsteiger einlädt, hat man erst einmal einen Sechser im Lotto. Du kannst so viel lernen, was du dir alleine mühsam erarbeiten müsstest. Die Tour war von langer Hand geplant. Reinhold sagte mir, ich solle mir das ruhig ein paar Wochen lang überlegen.
Wie lange hast du überlegt?
Drei Minuten. Ich habe das Telefon genommen und ihm gesagt, dass ich dabei bin. Zehn Minuten später saß ich beim Schuldirektor und kündigte meine Stelle als Kunsterzieher. Ich weiß nicht, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte ich mich anders entschieden. Aber mit dieser Begrenztheit des Menschseins muss man sich abfinden. Ich denke, es ist egal, was man im Leben macht. Wichtig ist, wie man es macht.
Du warst zum Klettern in Patagonien, im Yosemite und Oman. Gibt es einen Gipfel, der herausragt?
Nein, da würde ich nichts hervorheben. Ich bin da auch nicht hin, weil ich das öffentlich machen muss. Ich schätze es, wenn Leute sich der Öffentlichkeit zeigen und ihre Geschichten erzählen. Aber das war kaum Teil meines Weges. Für mich war wichtig, mich selbst sowie viele andere Menschen kennenzulernen und die Natur in ihrer Größe und Besonderheit zu erleben. Das verändert einen, man kommt nie als der Gleiche zurück, als der man losgezogen ist.
1991 durchstiegst du mit Hans Kammerlander an einem Tag die Nordwände von Ortler und Großer Zinne. Dazwischen liegen 247 Kilometer, die du mit dem Fahrrad zurücklegtest. Was war das für eine Aktion?
Die Idee von der Ästhetik her war, die beiden berühmtesten Wände Südtirols zu besteigen. Freundlicherweise liegen sie so weit auseinander, dass man die ganze Provinz durchquert. Eine schöne Linie. Eine Eiswand und eine Felswand. Es gibt Hunderte bessere Radfahrer, bessere Eiskletterer und bessere Felskletterer. Alles an einem Tag zu kombinieren, war jedoch ein interessanter Aspekt. Man wurde bestaunt und bekannter. Mich selbst hat es aber nicht so viel weitergebracht. Jede einzelne Erstbegehung ist in meiner persönlichen Biografie wichtiger.
Und wie waren die 250 Kilometer im Sattel?
Ich bin vorher höchstens mit dem Rad zum Bäcker gefahren. Wir hatten einen VW-Bus als Begleitfahrzeug und zwei Radler, die uns Windschatten gaben. Die waren hilfreich, sie haben mir auch erklärt, dass man unter einer Radshort keine Unterhose trägt.
Heute bist du 65 Jahre alt. Wie gehst du mit deiner abnehmenden Leistungsfähigkeit um?
Ich weiß, dass es so ist, und versuche, mit Achtsamkeit zu begleiten, wie es sich effektiv auswirkt.
Ist das nicht frustrierend?
Einige Bergsteiger unter meinen Freunden, die stark in der Öffentlichkeit stehen, haben größere Probleme, ihr fortschreitendes Alter in die Karriere zu integrieren. Ich muss ja nur mit mir selbst zurechtkommen. Früher dachte ich, man würde nostalgisch, wenn man nicht mehr im zehnten Grad klettern kann. Die Wirklichkeit ist, dass es mich inzwischen vor solchen extrem überhängenden, kleingriffigen Touren graust. Das Vergangene ist geschehen, meine Gegenwart ist unglaublich spannend und ich gestalte sie so, dass sie mich optimal fordert. Nur weil die Leistungsfähigkeit abnimmt, gilt das noch lange nicht für die Leidenschaft.
Wie sieht’s mit der Ausdauer auf Skitouren aus?
Eine Stunde irgendwo hochzusprinten, läuft nicht mehr so gut. Aber in Sachen Leidensfähigkeit und langer Ausdauer bin ich sogar stärker geworden. Auch die Intimität mit den Bergen wächst noch immer. Ich fühle mich oft als Teil der Berge und dieses Gefühl nimmt weiter zu.
Dein Lieblingsort in den Dolomiten?
Grundsätzlich der, an dem ich mich gerade befinde. Sehr verbunden fühle ich mich mit der Atmosphäre am Heiligkreuzkofel. Hier erlebt man die Wildheit der Dolomiten. Kaum Bohrhakenrouten, wenige Kletterer, große Ausgesetztheit. Wobei ich gewisse Routen an dieser Wand bereits meide, wenn ich mich nicht ganz fit fühle. Da schleicht sich doch ein wenig Nostalgie ein, stelle ich gerade fest.
Welche Lebensweisheit hast du nach all den Jahren aus den Bergen mitgenommen?
Ich denke, wenn man das Leben realistisch sieht, dann ist es einfach wild. Man muss sich nicht immer in Sicherheit befinden. Wenn der Wind stark weht und man einen geschützten Platz hinter einem Stein findet, dann ist das ein kleines Glück. Solche Momente gibt es Millionen im Leben. Wenn man sie zu schätzen weiß.