In Boulderhallen geht es manchmal schon zu wie in der Wiener U-Bahn zur Rush-Hour – so beliebt ist diese Klettervariante. Kein Wunder, dass sich in vielen Großstädten eine Urban-Boulder-Szene gebildet hat.

Niko van Hal


Bouldern, also ungesichertes Klettern in Absprunghöhe, wird 2020 als Sportkletter-Variante olympisch. Andererseits heißt Sport nicht immer Wettkampf. Und das zeigen Urban Boulderer an eindrucksvollen Schauplätzen. Andrea Maruna, die seit vielen Jahren in der österreichischen und internationalen Kletterszene mitmischt, ist auch Insiderin in der Urban Boulder-Szene: „Es gibt weltweit viele ‚Urban Boulder Clubs‘. Der nationale Hotspot ist sicher Wien, auch aufgrund der Veröffentlichung des Vienna Urban Boulder Guides.“ In dem Buch werden viele Boulder – also zu lösende Kletteraufgaben – im Wiener Stadtgebiet beschrieben. Urban Bouldern bietet eine Möglichkeit, eine Stadt mit anderen Augen wahrzunehmen und zu erkunden. Maruna: „Es fasziniert mich, ein Objekt, das eigentlich eine komplett andere Funktion erfüllt, in einen neuen Kontext zu setzen. Ein Brückenpfeiler etwa ist prinzipiell nicht dafür gemacht, dass man an ihm hinaufklettert. Und genau darin liegt das Besondere: Ist es trotzdem möglich, diese Struktur zu bezwingen?“ 

Outdoor statt indoor
Technik, Kraft und Fingerspitzengefühl sind beim Bouldern die Basis. Der Verzicht auf Seile, Klettergurte und Karabiner ermöglicht es, auch ohne Vorkenntnisse schnell erste Versuche an einer natürlichen oder künstlichen Felswand zu unternehmen. Der Besuch einer Boulderhalle ist für viele zum regelmäßigen sportlichen Ausgleich von der Arbeitswelt geworden. 
Dass es aber auch in der Stadt nicht immer eine Halle sein muss, weiß Andrea Maruna, und sie verweist auf die schier endlosen Möglichkeiten im urbanen Raum: „Die Urban Boulder-Szene wächst und interessiert immer mehr Menschen. Ein Hauptgrund ist sicher, dass man als arbeitender Mensch nach acht Stunden Büro nicht erneut Lust auf eine stickige, überfüllte Halle hat. Da ist es doch viel reizvoller, draußen in der Abendsonne ein paar geile Züge zu bouldern.“ Außerdem erklärt sie, dass die Sportart nicht so jung ist, wie man im ersten Moment vermuten möchte, und verweist darauf, dass der urbane Raum in Wien schon lange zum Klettern genutzt wird. So erschienen bereits Ende der 1980iger-Jahre erste Topos zu Routen an der Reichsbrücke.

Kletterspots vor der Haustüre
Beim Bouldern spricht man oft davon, dass man eine Kletteraufgabe „lösen“ möchte – was nicht heißt, dass es immer nur eine Lösungsmöglichkeit gibt. Oft muss der Kletterer durchaus kreativ sein und etwas um die Ecke denken, um den Weg nach oben zu schaffen. Maruna räumt der Kreativität aber auch aus einem anderen Grund eine zentrale Rolle beim Urban Bouldern ein – und beschreibt sie als „deine magische Brille, die du dir beim Spazieren durch die Stadt aufsetzt“. Durch diese Brille betrachtet, werden öde Betonwände zu spannenden Kletterrouten, Ziegelfugen zu Griffleisten oder Stahlpfeiler zu Piaz­schuppen. Die urbanen Strukturen fügen sich zu einem großen Spielplatz und plötzlich warten vor der eigenen Haustüre unendlich viele Kletterspots darauf, entdeckt zu werden. Urban Boulderern müssen dabei allerdings zwei Dinge bewusst sein – erstens:  das Klettern auf Objekten im öffentlichen Raum ist nicht legal. Jeder ist also selbst für sein Handeln und die sich daraus ergebenden Konsequenzen verantwortlich. Zweitens: „Ungesichert“ heißt nicht, ohne Sicherheitsvorkehrungen zu klettern: „Es ist wichtig, die Basics des Kletterns vorweg in einem geschützten Raum, also in einer Kletterhalle zu erlernen. Dazu gehört auch das Wissen, wie ich Verletzungen vermeiden kann. Zum Beispiel wie spotte ich, sprich: wie fange ich meinen Kletterkollegen im Falle eines Sturzes. Außerdem ist es ein Muss, große und dicke Bouldermatten mitzunehmen und bei Bedarf zu verwenden.“ 

Die Grenzen des Machbaren
Der Zugang zum Urban Bouldern ist von Athlet zu Athlet etwas unterschiedlich. Für Maruna spielt, wie auch beim Bouldern in der Natur, die Verschiebung der Grenzen des Machbaren eine zentrale Rolle. Diesen Grundsatz beschreibt sie als eine der Grund-Triebfedern des Kletterns. Dennoch geht es am Ende um mehr als nur um Leistungsdenken, denn eine feine Bouldersession direkt nach dem Arbeiten, im Freien und mit Freunden, sporne ohnehin zu Höchstleistungen an. Und die unzähligen Möglichkeiten beim Urban Bouldern tun, wenn man erst den Blick dafür entwickelt hat, ihr übriges ...

Was in der Szene gar nicht geht, ist, Bouldern zu verändern, um sie leichter, schwerer oder überhaupt erst möglich zu machen. Andrea Maruna erklärt, dass auch in der Stadt dasselbe Axiom wie am Felsen gilt – es werden also nur jene Strukturen, Kanten, Leisten, Rillen, Unebenheiten verwendet, die ein Gebäude oder Bauwerk anbietet. Und das ist auch ein Punkt, den Urban Boulderer schätzen: Es muss nichts mehr unternommen werden, um loszulegen, alle Routen sind bereits da und warten nur darauf, entdeckt zu werden. Nicht nur in Wien, sondern überall dort, wo grauer Beton die Natur verdrängt hat.

Andrea Maruna

Klettert seit 1999. Sie ist Sportwissen­schafterin, Physio­therapeutin und Kletter-Instruktorin und Athletin bei WildCountry/Salewa und Evolv.
www.facebook.com/salewa.andrea.maruna