Vor einem Jahr hat uns Reinhard Haller von der medizinischen Wirkung der Berge erzählt. Jetzt ­fragen wir ihn, ob wir durch Corona wie im Gefängnis sitzen, wie ein „Ausbruch“ gelingt und warum ihm Politiker leid tun. 

Christoph Heigl
Christoph Heigl

Wie verbringen Sie die corona­bedingte Pause? Haben Sie mehr Klienten oder weniger?
Zunächst hatte ich sehr viele Medienanfragen und Interviews. Bei den Patienten haben die Anrufe nach dem ersten Gefühl „endlich schulfrei!“ nach zwei, drei Wochen stark zugenommen. Depressionen, Angstzustände, Verlassenheitsgefühle, Partnerschaftskonflikte. Das war zu erwarten. Meine Prognose war, die großen Verbrechen werden zurückgehen, aber die Reibereien, die emotionalen Gewalttätigkeiten und die Konflikte werden zunehmen. Die Aggressivität ist dazugekommen, weil viele ihre Medikamente abgesetzt haben.

Den Lockdown in den eigenen vier Wänden haben viele wie eine Gefangenschaft erlebt. Sie waren oft in Gefängnissen tätig. Würden Sie das als Vergleich gelten lassen? 
Das Gebundensein an zu Hause ist für viele eine Form der modernen Strafe. Aber es hängt natürlich davon ab, ob man in der Großstadt lebt, mit engen Wohnverhältnissen, oder privilegiert wie ich am Waldesrand, wo man direkt hinaus kann. Das Phänomen ähnelt dem berühmten Versuch mit den Hackhühnern: Je enger man sie zusammenpfercht und je länger das dauert, umso mehr hacken sie aufeinander ein. Aggressivität und Selbstaggressivität nehmen zu. Ob es durch Corona auch zu einem Anstieg der Suizidraten kommen wird, wissen wir noch nicht.

Warum halten wir uns so folgsam an die strengen Regeln? Weil wir den Sinn erkennen?
Den Österreichern muss man ein Kompliment machen, dass sie so mitgegangen sind. Das hat mich schon erstaunt, wie diszipliniert wir alle mitgemacht haben. Ein toller Ausdruck der Solidarität. Man nimmt die Maske, nicht um sich, sondern um andere zu schützen. Offensichtlich erkennen wir den Sinn dahinter. Wie immer gibt es aber die Gruppe derer, die sich nicht daran halten, das lässt sich nicht vermeiden. Ich sage oft spöttisch, wir haben eben die 95 Prozent der „Normopathen“, die sich an alles halten, und die fünf Prozent der persönlichkeitsgestörten Psychopathen, die alles ignorieren. Österreich hat gut abgeschnitten.

Auch das Phänomen des Vernaderns war zu beobachten. Nachbarn und Wirte wurden angezeigt? Warum wird vernadert?
Zum Vernadern neigen auch normale Menschen. Wer Angst hat und den ganzen Tag zur Vorsicht aufruft, hat zusätzliche Angst, wenn sich jemand nicht an die Regeln hält. Das ist nachvollziehbar. Bei anderen ist es der Neid auf jene, die sich etwas trauen, was man selbst nicht kann. Und der dritte Faktor ist, wenn die Verhältnisse autoritärer werden. Es ist auch bei uns bei aller Notwendigkeit an den Rand des Demokratischen gegangen. Dann weiß man, dass das Denunziantentum zunimmt. Die Identifizierung mit den Mächtigen geht so weit, dass man andere denunziert.

Warum werden manche depressiv, anfällig für Verschwörungstheorien und zeigen den Nachbarn an? Und warum erwacht in manchen Menschen unglaubliche Solidarität? Sie gehen für Ältere einkaufen, nähen Masken oder geben Balkonkonzerte? Woher bezieht das Virus diese Macht?
Das Virus hat vieles bewirken können, was vorher 1000 Konferenzen, Appelle, Vorträge, Bücher nicht bewirkt haben. Nehmen wir die Umwelt und die plötzlich sauberen Satellitenaufnahmen: Corona hat mehr bewirkt als alle Konferenzen von Paris bis Rio. Oder bei einem meiner Spezialthemen wie dem Narzissmus: Ich habe oft beklagt, wir leben in einer narzisstischen Zeit mit emotionaler Kälte und Entsolidarisierung. Nix hat‘s geholfen. Das Virus hat das Gegenteil bewirkt, es ist ein anti-­narzisstisches ­Virus. Es hat die Menschen zur Besinnung gebracht, dass es nicht immer höher, weiter, schneller gehen kann und muss. 

Ist Corona aus psychologischer Sicht vergleichbar mit anderen Krisen? 
Diese Zeit ist mit nichts vergleichbar. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren wir, also unsere Generation, mit keinen schweren Seuchen, Kriegen und Naturkatastrophen konfrontiert. Große Hilfsbereitschaft haben wir zwar in der Flüchtlingswelle auch erlebt, aber nicht in so einem Ausmaß, da waren es maximal 50 Prozent der Bevölkerung. Aber schon da hat man erlebt, dass große Solidarität in uns steckt. Das Besondere an dieser Krise ist, dass sie nicht regional auftritt, sondern global – und dann erträgt man es scheinbar besser. Wenn es den anderen auch dreckig geht, ist es für uns selber auch leichter zu ertragen. Dazu muss ich noch sagen, dass mir die Politiker von Anfang an sehr leidgetan haben, weil Wissenschaft und Virologen völlig unterschiedliche Daten geliefert haben. Von „die halbe Menschheit wird dahingerafft“ bis zu „a bissl a stärkere Grippe“ war alles dabei, alles dazwischen auch. Da muss jede Entscheidung falsch sein. (Lacht) Ausnahmsweise muss ich die Politiker in Schutz nehmen, sie waren zu bedauern. Ich bin Mediziner und die Wahrheit ist, dass auch die Fachleute noch nicht wissen, wie sich das Virus verhält.

In ganz Österreich waren Spazierwege, Wälder, Wanderwege und Berge in den letzten Wochen bevölkert wie noch nie. Überall Paare, Familien, Biker, Läufer. Haben die Wälder als Fluchtort eine neue magische Anziehungskraft?
Der Effekt ist alt, aber er ist uns neu bewusst geworden. Die Corona-Krise hat uns auf alles zurückgeworfen, auf unsere Beziehungen, auf unsere Familien, auf unsere Wohnungen, letztlich auf uns selbst. Und wir sind draufgekommen, dass es andere Dinge gibt als noch mehr Erfolg und noch mehr Stress. Die Beziehung zur Natur ist bei vielen in der Vergangenheit sicher zu kurz gekommen. Aber das ist ein Ur-Bedürfnis, das man nicht unterdrücken kann und das jetzt wieder erwacht. Ich empfehle auch jetzt nach wie vor jedem viel frische Luft und Bewegung, das ist wichtig für den Aggressionsabbau, die Verhinderung psychischer Schäden und eine besonders gesunde Form der Selbstheilung.

 „Wir steigen auf den Berg und sehen unsere Probleme unten im Tal ganz klein“, haben Sie uns im Vorjahr gesagt. Bleibt dieser Effekt dauerhaft oder vergessen wir das in ein paar Monaten wieder und sperren uns wieder freiwillig in unsere Büros, Autos und Wohnungen?
Dieser Schock war so groß, weil so global und so anhaltend, dass er einen dauerhaften Effekt haben wird. Viele Menschen haben die Zeit für Besonnenheit genutzt und überlegen: Wo sind die wahren Werte? Was sind die wichtigen Dinge im Leben? Natürlich werden die üblichen Gesetze des Menschseins wiederkommen und bei einigen die Rückkehr in alte Muster, aber der Effekt wird mit großer Breitenwirkung ein bleibender sein.

Die Beziehung zur Natur ist bei vielen sicher zu kurz gekommen. Aber das ist ein Ur-Bedürfnis, das man nicht unterdrücken kann und das jetzt wieder erwacht. 
 

Dr. Reinhard Haller

Kaum Autos auf den Straßen, kaum Flugverkehr, Natur pur, Stille, ein entschleunigtes Leben: Viele haben sich über ein Lebenstempo wie in den 60er-Jahren ­gefreut. Lassen wir uns dauerhaft auf diese Entschleunigung ein?
Wenn wir uns ehrlich sind, haben wir uns doch in den letzten Jahren schon nicht mehr mit Servas, Grüß Gott oder Habe d’Ehre begrüßt, sondern mit ­„keine Zeit“ und „hab an wahnsinnigen Stress“. Jetzt haben wir die Zeit und Ruhe bekommen. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will nicht nur sagen, wie toll jetzt alles ist. Es ist bedrückend und für die Wirtschaft und viele, viele  Menschen sehr schlimm, ich kann „Krise als Chance nutzen“ schon nicht mehr hören. Aber man soll und darf eben nicht nur auf die Gefahren sehen, sondern auch auf Positives.

Welche Lehren können wir für die ­Zukunft ziehen?
Vieles ist infrage gestellt. Muss es sein, dass wir für eine zweistündige Besprechung eine halbe Weltreise antreten? Ist es erforderlich, dass wir den Polterabend in Stockholm verbringen? Kann man am Samstagvormittag nicht am Grazer Hauptplatz einkaufen, muss man dafür nach Madrid, Rom oder London fliegen? Das war doch alles maßlos übertrieben und das hat man jetzt erkannt. Vieles kann man über Telekommunikation machen, auch Rundfunk- und TV-Interviews (lacht). Es wird einen enormen Fortschritt im E-Learning geben. Und als Psychiater hoffe ich, dass Corona auch eine Wirkung auf die Innenseite hat, dass die Menschen wieder empathischer werden, sich anhaltend mehr für den anderen interessieren, dauerhaft mehr Zuwendung und Zeit spenden. Wenn man nicht auch auf das Positive schaut, ist eine Krise immer zum Verzweifeln. Krise bedeutet im Altgriechischen ja so viel wie „Weggabelung“. Ich kann links oder rechts weitergehen.

Die Folgen für die Zeit danach: Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger sagte, entweder kommen Misstrauen und Kontrollstaat als Devise oder im Kontrast der „radikal soziale Mensch“ mit seinen drei stärksten Werkzeugen Gemeinschaft, Kooperation und Kreativität. Was glauben Sie?
Durch die modernen Kommunikationsformen ist bei uns vieles verloren gegangen, was face to face ablaufen sollte. Wenn man die Menschen jetzt fragt, was ihnen am meisten fehlt, sagen sie drei Dinge: das Umarmen von lieben Menschen, der Großeltern oder der Kinder. Das Miteinanderzusammensitzen und Biertrinken. Und als drittes, sich wieder frei bewegen und durchatmen zu können. Diese Urbedürfnisse sind sehr bewusst geworden. Der Mensch ist ein sehr soziales Wesen, ein emotional-empathisches Wesen und ein sehr naturverbundenes Wesen.

Und der Kontrast? Das Misstrauen? Per App verordnete Kontrolle?
Das hoffe ich nicht. Das Thema Datenschutz und Überwachungsstaat wird in Österreich immer schon sehr konträr diskutiert, da sind ausländische Staaten wie Deutschland oder die Schweiz pragmatischer und nicht so ängstlich. Vorsicht? Ja. Angst? Nein. Die Angst soll kein reißender Wolf sein, der uns die Seele auffrisst, sondern ein Wachhund, der anschlägt, wenn es gefährlich wird. Aber Misstrauen und Paranoia werden als Nebeneffekt unzweifelhaft größer, das ist klar. Wenn Frau Merkel sagt, man kann nicht genug konstruktive Opposition betreiben, geht das in die richtige Richtung.

In China sind die Scheidungsraten in den Corona-Gebieten gestiegen. ­Überspitzt formuliert: Wird es in einem Jahr bei uns mehr Scheidungen geben oder mehr Babys? Oder beides?
Beides. Das beobachten wir schon lange. Nirgends wird etwa so häufig der Entschluss zur Scheidung getroffen wie in Urlaubszeiten, wo man Zeit hat, Reibungsverluste stärker werden und Konflikte angesprochen werden. 

Optimismus oder Pessimismus? 
Was hält länger gesund?

Mittelfristig und in den nächsten ein, zwei Jahren wird wohl viel Pessimismus regieren, weil die Kollateralschäden in der Wirtschaft groß sind. Und da neigen die Menschen stark zu Pessimismus. Aber wir haben in dieser Krise keine zerstörten Straßen und Brücken, die ­Infrastruktur ist intakt. Auf Dauer wird sich der Optimismus durch­setzen. 

Die Angst soll kein reißender Wolf sein, der uns die Seele auffrisst, sondern ein Wachhund, der anschlägt, wenn es gefährlich wird. 

Dr. Reinhard Haller
Dr. Reinhard Haller
Dr. Reinhard Haller

geboren am 25. September 1951, aus Mellau in Vorarlberg. Beruf: Psychiater, Psychotherapeut, Neurologe, als Dozent, Vortragender und Buchautor tätig. Haller ist auch psychiatrischer Gerichtsgutachter, die bekanntesten Fälle waren Jack Unterweger und Franz Fuchs.