In Osttirol steht Österreichs größter Eiskletterpark. Vom Anfänger bis zum Profi finden dort alle beste Bedingungen für ihren Kampf gegen die Schwerkraft vor. Unser „Mann fürs Grobe" Klaus Höfler hat das Eisklettern ausprobiert – und stieß bei seiner Premierenerfahrung an so manche persönliche Grenze.
Von Klaus Höfler
So fühlt es sich also an, wenn einen die Kraft verlässt. Nicht gut! Unter einem gähnt der Abgrund. Über einem grinst eine steile – scheinbar unüberwindbare – Geländestufe. Gar nicht gut! Und die Finger, Unter- und Oberarme verlieren zusehends an Spannung, werden zittrig, leer. Nicht der beste Zeitpunkt, um schlappzumachen.
Eisklettern führt einen an die Grenzen. Umweg- und schonungslos. Auch das macht die Faszination dieses Sports aus. Selbst wenn man in nur vier Metern Höhe als Anfänger in einer mäßig steilen Eiswand klebt. Was von unten betrachtet harmlos und schaffbar erscheint, wird oben plötzlich zur echten Herausforderung. Man findet die Tritte nicht mehr, und das Vertrauen in die „Bissfestigkeit" von Pickel und Steigeisen muss auch erst wachsen. Noch dazu, wenn das Eis jetzt ausgerechnet dort ausbricht, wo man die Stahlzacken hineinrammen wollte.
Ein hilfloser Blick nach unten. Aber statt eines erlösenden Zeichens zum Abseilen, hört man Anfeuerungen: „Geht scho'! Beißen!" Matthias Wurzer kennt kein Erbarmen. Der Bergführer aus Kals am Großglockner weiß, dass das noch nicht das Ende ist. Er kennt das Eis. Er hat es selbst „gebaut" – zumindest der Natur und Physik nachgeholfen, dass hier eine beeindruckende Eiswand entstanden ist.
INSPIRATION AUS KANADA
Wir befinden uns in Osttirol, im Tauerntal, dreißig Autominuten nördlich von Lienz. Am hinteren Talschluss, wo der Tauernbach in den Gschlössbach mündet. An der schroff abfallenden Geländekante wurde nach einer Idee von Matthias „Matze" Wurzer und seinem Bergführer-Kollegen Vittorio „Vitto" Messini Österreichs größter Eisklettergarten in die Winterlandschaft gezaubert. „‚Eismachen' klingt einfach", sagt Wurzer. Doch das Gegenteil sei der Fall. So wurden im Eispark unter anderem 750 Meter Rohrleitung samt Begleitheizung verlegt, die die beiden Sektionen des Parks mit Wasser versorgen. Es gefriert zu mächtigen Säulen, Wänden, Stufen, Abdachungen – und ergibt so einen Spielplatz der Extraklasse für Eisfreaks.
Die Inspiration dazu holten sich die beiden in Kanada. „Dort haben wir gesehen, was möglich ist", erinnern sie sich an den ersten Besuch in einem kanadischen Eispark, in dem vom Anfänger bis zum Profi alles unterwegs war. In Osttirol begannen sie 2015 mit dem Planen, dem Überspringen bürokratischer Bewilligungshürden, dem Anzapfen von EU-Fördergeldern, der Gründung eines eigenen Betreibervereins (Bergsport Osttirol) – und letztlich der Umsetzung.
Eine halbe Stunde Fußmarsch vom Matreier Tauernhaus einen Forstweg entlang braucht es, um den Eispark zu erreichen. Der einfache Zustieg ließ die Besucherfrequenz während der Saison zwischen Dezember und März schnell ansteigen.
Video: Eisklettern Helmcken Falls (CAN)
DER „PAMPERS-FAKTOR"
Auf insgesamt gut 200 Metern Breite bauen sich heute in zwei Abschnitten bis zu 60 verschiedene Routen sämtlicher sieben Schwierigkeitsgrade auf. Für diese Kategorisierung sind Steilheit, Absicherbarkeit und Eisqualität maßgeblich. Ab WI (kurz für „WaterIce") 5 klettert man beispielsweise zu 80 Prozent senkrecht und die Eisschrauben sind nicht mehr einwandfrei in die Wand zu setzen.
Bei WI 7 wird es „moralisch", sagt Wurzer. „Sehr schlechte Sicherungsmöglichkeiten, Grenze des Machbaren", fällt dem Alpenverein in seiner Charakterisierung dazu ein. „Da kommt der Pampers-Faktor dazu", sagt Wurzer. Und man braucht fundiertes Wissen und feinste Technik.
TECHNIK UND KRAFT
Fehlt beides, steckt man auch bei einer kurzen 4er-Passage schon hilflos fest. „Ausspreitzen! Gemma!", kriecht Matthias Wurzers Anfeuerung die Wand herauf. Wenn das so einfach wäre. Für den Rookie gilt die alte Kletterweisheit: Fehlt die Technik, fehlt – schneller als einem lieb ist – auch die Kraft.
Theoretisch klingt das ja alles recht einfach: Drei-Punkt-Stand, also immer drei der vier Eiszacken-„bewaffneten" Extremitäten fest im Eis verankern, schulterbreit stehen, 80 Prozent des Gewichts auf die Füße, Knie weg vom Eis, Fersen nach unten. Aus Schulter, Ellenbogen und dem Handgelenk heraus runde Schlagbewegungen im Radius des ergonomisch geformten Pickels, ihn am letzten Stück sich selbst ins Eis fressen lassen. Und mit einer leichten „Hoch-runter"-Bewegung wieder aus dem Eis lösen. Dabei aber nur ja nicht den Oberkörper verdrehen. Ja eh.
Praktisch wird das Ganze zu einem handfesten Gerangel mit dem gefrorenen Element Wasser. Gefinkelterweise präsentiert es sich in seinen unterschiedlichsten Varianten: entweder weich, hart, „saftig", unterspült, knollig, spröde oder trocken (bei permanentem Wind).
BEGEGNUNG MIT STEVE HOUSE
„Eis ist ein ,fluid medium'", versucht Steve House eine Erklärung der Faszination und Schönheit des Mediums Eis. Steve ist eine Ikone der Szene. Reinhold Messner adelte House nach dessen Durchsteigung der Rupalwand am Nanga Parbat (8.125 Meter) – einer 4.500 Meter hohen Steilwand aus Fels, Eis, Schnee – als „besten Höhenbergsteiger der Gegenwart". Das war 2005. 2010 stürzte House am Mount Temple in den kanadischen Rockies 25 Meter ab. Kollaps des rechten Lungenflügels, doppelter Beckenbruch, sechs Rippen in 20 Stücke gebrochen, die Wirbelsäule an fünf Stellen angerissen.
Heute sitzt House in der Stube des Matreier Tauernhauses, erzählt von Mentorenprojekten für junge Bergsteiger und schwärmt von der Osttiroler Bergwelt, die ihm zu einer zweiten Heimat geworden ist. Sieht man House zu, wie er die Eiswand elegant hinaufjagt, könnte man meinen, die Gesetze der Schwerkraft seien für einen Moment außer Kraft gesetzt. „Wenn es geht, ist es brutal geil – aber da muss alles passen", beschreibt dann auch Matze Wurzer die Magie solcher Augenblicke in eisigen Höhen.
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