Senkrecht im Fels nach oben steigen. Unter sich den Abgrund spüren. Mutgrenzen ausloten und trotzdem für Sicherheit sorgen. Es ist eine intensive Gefühlsmischung, die immer mehr Bergsportler auf die Klettersteige zieht. Das Problem dieses Booms: Nicht allen ist bewusst, dass es sich bei den „Eisenwegen“ nicht um Touristenattraktionen handelt, sondern um ein Terrain, das Können, Wissen und echte Fitness einfordert.
Ramsau am Dachstein hat rund 65.000 Übernachtungsgäste in der Sommersaison. „Und 10.000 bis 15.000 davon sind in dieser Zeit auf den 18 örtlichen Klettersteigen unterwegs“, schätzt Elias Walser, Geschäftsführer von Ramsau Tourismus. Diese Relation zeigt, wie beliebt Klettersteiggehen in den letzten Jahren geworden ist. Einer seits absolut positiv für den Tourismus in dem Ort, wo vor über 170 Jahren der erste Klettersteig der Welt entstand. Andererseits: Mit der Zahl der Einsteiger stiegen auch die Bergrettungsein sätze auf den „Eisernen Wegen“ in Besorgnis erregendem Ausmaß an. „Binnen weniger Wochen mussten wir zum Beispiel fünf entkräftete Sportler aus ein und derselben Klettersteigpassage holen“, erzählt Heri Eisl, Ramsauer Hotelier und Bergrettungschef. Der Schluss, den in der Ramsau Touristiker, Bergretter und Bergführer gemeinsam daraus zogen, nennt sich „Klettersteigschein“: Ein Service für Einsteiger und wenig Erfahrene, an einem halben Tag und gegen einen minimalen Kostenbeitrag von € 29,– von einem Profi zu lernen, was man als Klettersteiggeher tunlichst wissen sollte. Das SPORTaktiv-Team war bei der Erstpräsentation dabei – und hat den „Führerschein“ für Klettersteige probehalber gleich absolviert.
SPASS DURCH SICHERHEIT
Vorweg gesagt: Niemandem soll mit dem mahnenden Zeigefinger der Spaß an der trendigen Sportart verdorben werden. Im Gegenteil: „Sicherheit – auch das subjektive Sicherheitsgefühl – ist schließlich wesentlicher Faktor für Spaß. Wer sich beim ersten Mal absolut nicht wohlfühlt, wird die Sportart gleich wieder sein lassen“, glaubt Elias Walser.
Dass die Balance zwischen Angebot und vernünftigem Ausüben bei manchen in der Vergangenheit oft nicht mehr gestimmt hat, war für die Ramsauer offensichtlich. Bergretter Eisl will auch den Sportlern, und da vor allem den urlaubenden Gelegenheitssportlern, nicht die Alleinschuld geben: „Es haben sich die Rahmenbedingungen geändert: Neue Angebote, kurze Zustiege, professionelles, leistbares und modisches Equipment haben den Interessentenkreis enorm erweitert. Und in diesem Sog ergibt sich offenbar die Gefahr, Klettersteige zu unterschätzen.“
Wie schaut der typische Rettungseinsatz auf Klettersteigen aus? „Die überwiegende Mehrzahl wurde durch Entkräftung ausgelöst“, erklärt Eisl. „Da hängen dann Sportler mit neuestem Equipment an einer Schlüsselpassage im Steig fest, können nicht mehr vor und zurück.“
Vom Klettersteigset abgefangene Stürze seien zum Glück eher selten. Welche Folgen so ein Sturz haben kann, welche Kräfte frei werden, wenn man im Extremfall vier bis fünf Meter am Fels „runterrauscht“, bis der Karabiner des Klettersteigsets am nächsten Verankerungspunkt hängenbleibt, demonstrieren die Ramsauer Bergretter bei einer „Schaubergung“, für die sie krachend eine menschengroße Puppe bloß zwei Meter tief ins Klettersteigset stürzen lassen. Und unterstreichen zusätzlich ihre Forderung nach einem „vernünftigen Umgang mit Klettersteigangeboten“ mit weiteren Argumenten: „Bergungen sind oft kompliziert und langwierig; Retter müssen entweder von unten auf- oder von oben absteigen – für Verunglückte bedeutet das oft stundenlanges Ausharren. Hubschrauberbergungen sind nicht überall möglich und mit heiklen Momenten für alle Beteiligten verbunden.“ Und weil bekanntlich alle Bergretter ehrenamtlich und in ihrer Freizeit tätig sind, kann man sich vorstellen, dass die gestiegene Zahl an Einsätzen in Klettersteigen nicht gerade helle Freude auslöst.
EINSCHULUNG VOM PROFI
Damit aber zur positiven Botschaft dieser Geschichte. Denn die lautet: Man kann sehr viele Gefahrenquellen minimieren oder gar eliminieren, wenn man sich den Klettersteigsport nur einmal von einem Bergprofi zeigen lässt! Damit ist nicht nur das Ramsauer Angebot gemeint, sondern jede Art Klettersteigkurs. Oder aber man engagiert sich einmal einen Bergführer für die persönliche „Erstbegehung“. Das kostet nicht die Welt, bringt aber enorm viel für die Sicherheit.
Auch typisch: Selbst Einsteigern und Gelegenheitsbergsportlern mangelt es kaum einmal an einer guten Sicherheitsausrüstung – bloß beim Wissen über den Umgang mit dem Material hapert es gewaltig. Wie man den korrekten Sitz des Klettergurts überprüft, wie man das Set (per Ankerstich) richtig befestigt und was ein Partnercheck bedeutet: Genau das lernt man eben beim Ramsauer Klettersteigschein vom Bergführer.
Ein Risikofaktor ist oft mangelhafte Tourenplanung: Die heute sehr exakten Wettervorhersagen würden nicht beachtet, sogar Warnungen von Einheimischen in den Wind geschlagen. „Man hat halt genau an dem einen Tag Zeit, da lässt man sich vom Wetter nicht abhalten“, kritisiert der Ramsauer Bergrettungschef. Deshalb bekommt seine Zun beim Einsatz oft zu hören: „Dass das Gewitter so schnell kommt, hätt ich nicht geglaubt ...“
Nicht selbstverständlich, vor allem ohne praktische Erfahrung, ist es, eine Klettersteig-Topografie richtig zu interpretieren bzw. die daraus hervorgehenden Anfoderungen, Schlüsselund Gefahrenstellen auch praktisch einschätzen zu können. Klettersteige werden nur in Höhenmetern und nicht in erwarteter Gehzeit angegeben, da diese Zeit eben individuell völlig unterschiedlich ist. Damit fällt Unerfahrenen aber die Einschätzung schwer. Und die Schwierigkeitsgrade „C“, „D“ oder gar „E“ bleiben ohne praktischen Erfahrungswert zunächst auch bloß, was sie sind: Buchstaben auf Papier. Wer dagegen zwei oder drei „C“-Passagen mit dem Bergführer gemeinsam begangen hat, bekommt rasch ein Gefühl dafür, was man sich in der Praxis zutrauen kann.
KOPF UND KÖRPER
Neben der theoretischen Wissensvermittlung (die meist direkt auch am Klettersteig eingebaut wird), ist der praktische Teil des „Klettersteigschein“- Kurses in der Ramsau also ganz wesentlich. Einsteiger werden, wie unsere Journalistengruppe, auf den „Kala“-Klettersteig geführt, der als Jugendklettersteig ausgewiesen ist. Klingt nach einfacher Fingerübung, ist es aber in der Praxis keineswegs: Schon die erste Passage nach dem Einstieg (laut Topo im Schwierigkeitsgrad B) vermittelt, was Ausgesetztheit und das Gefühl, sich im steil abfallenden Gelände zu bewegen, für
den Kopf bedeuten. Auch körperlich merkt man schnell, worauf es ankommt: Tritte und Griffe suchen, sicheren Halt finden, das Hantieren mit den Karabinern beim Ein- und Umhängen – all das fordert in jeder Sekunde volle Konzentration.
Am Kala-Steig, der von unserer Gruppe schließlich in rund zwei Stunden (mit langen Wartepausen) begangen wird, folgen noch zwei de ige C-Passagen, in denen man als Anfänger wider besseres Wissen dazu neigt, sich vermehrt mit den Armen hochzuziehen (statt mit den Beinen hochzusteigen) oder sich ans Seil zu klammern. Da kann man sich plötzlich gut vorstellen, dass bei längeren und vor allem schwierigeren Passagen bald einmal die Armkra und zuletzt die ganze Energie zu Ende geht, wie es offenbar vielen passiert.
Erst am finalen Ausstieg fällt die Anspannung ab und es stellt sich das schöne Gefühl ein, etwas Neues sicher geschafft zu haben. Es stellt sich auch bald die Lust auf moderate Steigerung ein – „Kala“ ist immerhin der zweitleichteste von 18 Klettersteigen der Ramsau. Und ausgestattet mit dem „Klettersteigschein“ kann man sich durchaus an höhere Aufgaben herantasten. Ohne gleich ein weiterer „Wackel-Kandidat“ für die Bergretter zu werden ...
Alle Infos zum 1. Ramsauer Klettersteigschein findest du auf www.ramsau.com
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