Elektronik am Rennrad und Gravel hat längst nicht mehr nur an der Schaltung ihre Berechtigung, sondern auch beim Antrieb.

Lukas Schnitzer
Lukas Schnitzer

Der Markt eint, was für die „Szene“ lange als No-Go galt: Ja, E-Rennrad und E-Gravel haben ihre mehr als zufriedene Fanbase längst gefunden. Die Vorzüge der neuen Technik sind bei der tatsächlichen  Kundschaft durchaus gewünscht – nicht nur senkt die zusätzliche Motorisierung die Eingangshürden in die Welt der langen Touren und langen Pässe. Sie verlängert auch so manche Karriere um ein weiteres Jahrzehnt oder mehr und macht neue Seilschaften auf Tour möglich. 

Julian Pfeiffer, Brandmanager bei BH Bikes, erkennt hier eine entsprechend breite Zielgruppe. Er sieht in E-Rennrädern und E-Gravelbikes eine „tolle Möglichkeit für Personen, denen aus unterschiedlichen Gründen die Ausdauer für lange Touren fehlt oder denen körperliche Einschränkungen ein Fahren ohne Unterstützung erschweren“. Aber auch Sportler, die mit der Unterstützung des Motors „Leistungsunterschiede ausgleichen wollen, um auf gemeinsamen Trainingsfahrten mit Partnern oder Freunden mithalten zu können“, identifiziert er als mögliche Käufergruppe. „Gerade auch Paare mit sehr unterschiedlichen Konditionsniveaus fallen eindeutig in die Zielgruppe für E-Rennräder und E-Gravelbikes“, führt Pfeiffer aus. Insbesondere wenn ein Partner deutlich erfahrener oder einfach fitter ist, ermöglicht es die elektrische Unterstützung beiden gemeinsam zu radeln, ohne dabei den einen zu über- oder den anderen zu unterfordern.

Thomas Pressl, Head of R&D bei KTM, ortet hier auch Differenzen zwischen Road und Gravel. Auf der Straße sieht er schwächere Fahrer in schnellen Gruppen im ­Fokus, die mit E-Road-Bikes kaum Nachteile im flachen Terrain (Pulkfahrten, Windschatten) erfahren, dafür aber bei Anstiegen ihren körperlichen Nachteil durch den Motor kompensieren können. In der Gravel-Welt ortet er eher den klassischen Genussfahrer als Zielgruppe. Die schönen, weiteren und bergigen Touren lassen sich so einfach leichter umsetzen. Aber auch Pendler, die auf dem Weg in die Arbeit schneller vorankommen und gleichzeitig weniger verschwitzt ankommen wollen, sollen sich laut Julian Pfeiffer sowie Hohe Acht-Produktmanager Thorsten Struch vom Konzept angesprochen fühlen, wie Abenteurer, die sich auf Bikepacking-Touren über Motorunterstützung beim Gepäcktransport freuen.
 

Zwei Motoren-Konzepte
Bei der Motorwahl stehen zwei Grundkonzepte zur Wahl – Nabenmotor oder Mittelmotor: Beim ­Nabenmotor sitzt der Antriebsmotor (im sportiven, hochwertigen Einsatz) direkt in der Hinterrad- nabe, der Akku im Unterrohr. Vorteile des Konzepts erkennt Julian Pfeiffer in der oft sehr unscheinbaren, guten Integration, sodass E-Bikes kaum als solche erkennbar sind. Außerdem wird der Vortrieb direkt am Antriebsrad erzeugt. Ein Punkt für Freunde der vollen Gangauswahl: Da keine Motorenkräfte über die Kette übertragen werden müssen, „bieten die Systeme eine gute Schaltperformance und erleichtern die Integration moderner „2 x 12“- Schaltungen“, wie Pressl ergänzt.

„Wer sich für ein E-Gravel- bzw. E-Rennrad interessiert, legt in unseren Augen großen Wert auf einen sportlichen Charakter des E-­Bikes. Dazu gehört in erster Linie eine dynamische Fahrweise, die auch stark vom Gewicht des Antriebssystems abhängt. Da spielt der Nabenmotor schon einen großen Vorteil aus“, erklärt Thorsten Struch die Entscheidung von Hohe Acht „pro Nabenantrieb“. In vergleichbaren Preisklassen sind Räder mit Nabenantrieb oft leichter als solche mit Mittelmotor. 

Nachteile des Nabenmotor-Konzepts sieht Pfeiffer in der ungünstigeren Gewichtsverteilung. Auch die Wartung des Antriebs sowie der Aus- und Einbau des Hinterrads im Pannenfall gestaltet sich bei Nabenantrieben minimal komplizierter.

Dem stehen Mittelmotorkonzepte gegenüber. Bei diesen sitzt der Motor in einer eigenen Aufnahme im ursprünglichen Tretlagerbereich. Mittelmotoren sind Pfeiffer zufolge oft etwas lauter als Nabenmotoren. Dies hängt aber auch stark vom Hersteller ab – und ist zum Teil weniger dem Motor denn seiner Platzierung im Rahmen geschuldet. „Der Rahmen ist etwas aufwendiger zu konstruieren, die Schaltperformance kann gegebenenfalls etwas schlechter ausfallen“, ergänzt Thomas Pressl. Dafür, so Pfeiffers Einschätzung, überzeugen sie mit „hoher Fahrstabilität dank zentralem und niedrigem Schwerpunkt“.

Da die Kraft durch das Tretlager ins System gebracht wird, gestaltet  sich die Wartung an Hinterrad und Kette einfacher. Moderne Light- oder Minimal-Assist-Motoren samt Akku lassen sich ebenfalls unauffällig in den Rahmen integrieren. Außerdem, so Pressl, würden Mittelmotoren effizienter arbeiten und kaum anfällig für Überhitzung sein.

Gängige, am E-Rennrad und -Gravel verbaute Nabenmotoren sind vor allem die Modelle Mahle X20 oder X35+. Bei Mittelmotoren ist die Auswahl mit Bosch Performance SX, Shimano EP8, Specialized 1.2 SL, TQ HPR50, Fazua Ride 50 Evation, BH2EXMAG GEN2 um einiges größer. Wozu man greift, hängt von den persönlichen Vorlieben, aber auch vom geplanten Einsatzzweck ab. Mit schlanken Akkus ermöglichen heute beide Systeme beeindruckend leichte Bikes unter 12 kg und auch im Fahrgefühl bietet der Markt die volle Bandbreite: von sportlich natürlich bis permanenter Orkan im Rücken.

Unsere Empfehlung: Das Rad nicht nach Antriebskonzept und auch nicht nach Datenblatt (Drehmoment, Spitzenleistung, Akku), sondern nach einer Probefahrt kaufen, da sich die einzelnen Motoren doch recht stark im realen Fahrgefühl unterscheiden.

Worauf sonst noch achten?
Allgemein wichtig ist Pressl ein Rahmen-Gabel-Set mit möglichst großer Reifenfreiheit. „Durch die Anpassung der Reifenbreite kann der Kunde das Bike einfach und kostengünstig an persönliche Bedürfnisse anpassen.“ Für Road empfiehlt er bis zu 32 mm Reifenbreite, am Gravel gerne auch 45 mm. Außerdem sollte man, egal ob am Renner oder Gravel, „auf hydraulische Bremsen setzen und auf eine Schaltung mit vernünftiger Übersetzungsbandbreite achten“.

Die grundsätzliche Frage, ob E-Rennrad oder E-Gravel, entscheiden wohl der Einsatzbereich („nur“ Straße oder auch Wald und Wiese), aber letztlich auch der Geschmack. Und wer sich partout nicht entscheiden kann: Seine Vielseitigkeit spricht letztlich fürs Gravel – für eine lang anhaltende Beziehung ­voller schneller Fahrfreude.