Salewa-Athlet Simon Gietl zählt zu den Alpinisten einer neuen Generation. Im Interview spricht er über den Klimawandel in den Dolomiten, über spannungsgeladene ­Momente in Patagonien und schwere Entscheidungen in Pakistan.

Axel Rabenstein
Axel Rabenstein

Simon, wie ging das los … mit dir und den Bergen?
Ich bin auf 1400 Meter Höhe in einem kleinen Bergbauerndorf aufgewachsen. Mein Vater war leidenschaftlicher Skitourengeher. Als ich 13 war, hat er mich erstmals mitgenommen und ab diesem Zeitpunkt ging es dann jeden zweiten Sonntag hoch in die Berge.

Warum nur jeden zweiten?
So konnte mein Vater im Wechsel seine Touren gehen und andere auf mein Tempo anpassen. Außerdem wollte er vermeiden, dass er mich in jungen Jahren verheizt, mir vielleicht die Lust am Tourengehen nimmt. Generell war das sicher gut so. Aber ich habe immer zwei ­Wochen gezappelt, bis es endlich wieder soweit war.

Wie kam es zum Wechsel vom Schnee in die Felswand?
Das kann man Zufall oder Schicksal nennen. Ich war gerade volljährig, als mich beim Trampen ein Kletterer mitnahm, der von einer Tour an der Großen Zinne kam. Er erzählte mir so anschaulich, was er dort erlebt hatte, dass ich etwas Ähnliches erleben wollte.

Und dann bist du zur Großen Zinne gefahren?
Nicht ganz. Wir haben uns mit ein paar Jungs zusammengetan, die auch etwas Neues entdecken wollten, und sind in unsere ersten Wände gestiegen. Anfangs habe ich mich in der Höhe unwohl gefühlt. Die ersten Touren im 5. oder 6. Grad war ich unsicher, musste ­zwischen den Bohrhaken öfter mal einen zusätzlichen Keil legen, weil ich mich nicht hochgetraut habe.

Warum hast du dir das auferlegt, wenn du dich unwohl gefühlt hast?
Ich wollte mich durchkämpfen. Über meinen Schatten springen. 
Das ist es, was mich bis heute am Bergsteigen fasziniert. Du tastest dich an eine neue Herausforderung heran und bewältigst sie. Natürlich solltest du dabei nicht mit einem Fuß im Grab stehen. Du musst dich gefordert, aber nicht überfordert fühlen. Ich hatte häufig das Gefühl, dass es gefährlich ist, was ich mache, und habe mir Stück für Stück erarbeitet zu verstehen, dass es nicht gefährlich ist – dass es kein Problem ist, in senkrechtem oder überhängendem Gelände zwei Meter tief in einen Bohrhaken zu fallen.

Hat sich mit der Geburt deiner Söhne deine Art zu klettern verändert?
Ich schlage nicht einen Haken mehr, weil ich zwei Kinder zu Hause habe. Den Haken habe ich früher auch geschlagen. Alt werden wollte ich schon immer. Was sich verändert hat, ist die Auswahl der Expeditionen. Ich sehe zu, nicht länger als vier bis fünf Wochen unterwegs zu sein. Meine Familie würde mir sonst fehlen.

Werden deine Kinder in einer anderen Welt groß als du?
Definitiv. Ich war 14 Jahre alt, als wir ein Festnetztelefon bekamen. An freien Tagen waren wir den ganzen Tag alleine im Dorf unterwegs, niemand wusste, wo wir sind. Mit dreieinhalb Jahren stand ich auf Ski, wir haben uns die Pisten jahrelang selbst getreten. Ich war schon 15, als ich das erste Mal mit einem Lift gefahren bin. Meine Söhne steigen heute in den Skibus, in die Gondel und fahren in erschlossene Skigebiete. Die Natur, wie ich sie erleben durfte, war ein großes Geschenk.

Wie erlebst du den Klimawandel bei deiner täglichen Arbeit als Bergführer?
Die Temperaturen schwanken extremer, entweder es ist kalt oder warm. Unverkennbar ist, dass sich der Permafrost zurückentwickelt, in den Dolomiten häufen sich die Felsstürze, man hört es immer mehr und sie werden immer größer. Die Gefahrensituationen verändern sich.

Eine besondere Gefahrensituation hast du in Patagonien erlebt, als du in der Wand plötzlich Stromschläge kassiert hast. Was war da los?
Das war 2009 mit Roger Schäli am Aguja de l’S. Wir waren fast oben, als ein Gewitter aufzog. Die Luft war so aufgeladen, dass wir alle paar Sekunden eine gewischt bekamen, wie von einem Elektrozaun. Die Schläge haben uns am Hinterkopf getroffen, wahrscheinlich weil der Drehverschluss am Helm aus Metall ist. Heute kann ich darüber lachen, aber damals dachten wir, jetzt geht’s zu Ende …

Wie habt ihr reagiert?
Eine Option war, alles runterzuschmeißen, was Metall enthält, ­Pickel, Steigeisen, Haken. Die zweite Option war, so schnell wie möglich abzuseilen. Das haben wir dann auch getan, nach zwei Seillängen haben die Stromschläge glücklicherweise aufgehört und das ­Gewitter ist vorübergezogen.

Wie wär’s bei Option eins ohne Haken weitergegangen?
Gute Frage. Das war wohl der Grund dafür, dass wir uns für ­Option zwei entschieden haben.

Ebenso mit Roger Schäli hast du 2021 ein besonderes Projekt mit dem Namen „North6“ realisiert. Kannst du uns das noch einmal umreißen?
Die Idee war, die sechs großen Nordwände der Alpen nonstop mit eigener Muskelkraft zu bezwingen. Petit Dru, Grand Jorasses, Matterhorn, Eiger, Piz Badile und Große Zinne. Insgesamt rund 1000 Kilometer zwischen den Wänden und mehr als 30.000 Höhenmeter im Aufstieg.

Was sind deine prägenden Erinnerungen daran?
Zwei Monate vor unserem geplanten Start habe ich mir beim Klettern das Knie verdreht. Schaden an Meniskus und Knorpel, ich musste operiert werden. Ich hatte Tage zuvor noch Radtouren mit 300 Kilometer und 5000 Höhenmeter absolviert und problemlos weggesteckt. Plötzlich liege ich im Krankenhaus und kann kaum laufen. So am Boden war ich nie zuvor.

Warum habt ihr das Projekt nicht verschoben?
Wir hatten ein Filmteam, Sponsoren, die ganzen Vorbereitungen, das kannst du nicht mal eben für ein paar Wochen nach hinten schieben. Ich wollte stark sein. Nun war ich das schwächste Glied der Unternehmung. Das war hart für mich. Ich habe auf den Kalender geschaut, die Tage gezählt und mit meinem Knie noch nicht einmal eine Umdrehung auf dem Ergometer hingekriegt.
 

Über meinen Schatten springen. Das ist es, was mich bis heute am Bergsteigen fasziniert. Du tastest dich an eine neue Herausforderung heran und bewältigst sie.

Simon Giet

Wie hast du es dann doch geschafft?
Mein Physiotherapeut hat mir Mut gemacht und gesagt, ich solle es einfach probieren. Abbrechen könne ich immer noch. Nach zwei Wänden habe ich gespürt, dass mein Knie hält, und habe ihm versprochen mich nach dem Projekt voll und ganz seiner Genesung zu widmen und die Schiene abgenommen.

Das Knie war einverstanden?
Ja, das war es. Und inzwischen ist alles wieder gut.

Im Februar 2023 hast du alleine die 12 Gipfel der Geislerspitzen überschritten. Zuletzt warst du am Meru in Indien. Was sind die nächsten Projekte?
Ich spreche ungern über Pläne. Lieber erzähle ich die Geschichten danach. Was ich sagen kann, ist: Wenn ich mal 60 oder 70 bin, dann möchte ich durch ein prall gefülltes Abenteuer- und Erlebnisbuch blättern. Das wird mir mehr Spaß machen, als in ein Kontobuch zu gucken. 

Vor fünf Jahren warst du mit ­Thomas Huber in Pakistan, um die ­Nordseite des Latok 1 zu begehen. Ihr habt ­wegen Lawinengefahr abgebrochen. Wie schwer ist es, so eine Entscheidung zu treffen?
Einerseits schwer, weil man einen Traum nicht verwirklichen kann. Andererseits leicht, weil es einfach zu gefährlich gewesen wäre. Und der Traum lebt ja weiter.

Wird’s ein Wiedersehen mit dem Latok geben?
Na ja, jetzt muss ich ja doch über Pläne reden. Ich würde mal so viel dazu sagen, dass ich mit dem ­Thomas demnächst mal ein Bier trinken gehen muss.

Und wenn’s am Ende wieder losgeht, was ist schöner: aufzubrechen oder zurückzukommen?
Das eine braucht das andere. 
 

Simon Gietl
Simon Gietl

wurde 1984 geboren. Er hat bereits zahlreiche Begehungen in der ganzen Welt realisiert. Zuletzt gelangen ihm zwei viel beachtete Solo-Winterüberschreitungen – von allen Hauptgipfeln der Rosengarten-Gruppe (2022) sowie allen 12 Geislerspitzen (2023). Simon ist verheiratet, hat zwei Söhne und arbeitet in seiner Heimat Südtirol als Bergführer. 

WEB: www.simongietl.it