Berge sind viel mehr als bloß ein „Outdoor-Fitnessgelände“ – sie können die Menschen tief berühren und ihnen Kraft spenden. Warum ist das so? Wir haben bei Weltklasse-Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner nachgefragt, was den Berg zu ihrem persönlichen Kraftplatz macht.
Von Christof Domenig
Was die Berge den Menschen geben, warum sie für viele ganz besondere Orte sind, in denen sie sich losgelöst vom Alltag fühlen, und von denen sie gestärkt zurückkommen – das haben schon unzählige kluge Köpfe zu erklären versucht. Eine hundertprozentig schlüssige, rationale Erklärung ist dabei vermutlich noch niemandem gelungen, ein irrationaler, nicht greifbarer Rest bleibt immer bestehen. Und das ist auch gut so.
Bekannt ist auch, dass Österreichs berühmteste Bergsteigerin, Gerlinde Kaltenbrunner, die Berge als ganz besondere Orte für sich ansieht. Sie ist auf allen 14 Achttausender-Gipfeln der Welt gestanden – und hat trotzdem in einem Interview die Holzeralm in ihrer oberösterreichischen Heimat Spital am Pyhrn als einen ihrer persönlichen „Kraftplätze“ bezeichnet. Eine Alm, die auf 1.100 Metern Seehöhe liegt und für Wanderer ohne Schwierigkeiten zu erreichen ist. So, wie es auch Gerlinde oftmals in ihrer Kindheit machte, als sie die Faszination der Berge für sich entdeckte.
Die sportliche Herausforderung allein kann es also nicht sein, die die Berge für die Weltklasse-Alpinistin zu „magischen Orten“ werden lässt. Im Interview begab sich Gerline Kaltenbrunner gemeinsam mit SPORTaktiv auf Erklärungssuche, was für sie den „Kraftplatz Berg“ ausmacht.
Du hast viele Jahre deines Lebens dem Ziel untergeordnet, die höchsten Berge der Welt zu besteigen. Was macht, gerade diese Berg riesen für dich zu besonderen Orten?
Die Schönheit und Mächtigkeit der Berge ziehen mich enorm an. Jeder Berg besitzt seine Eigenheiten, wunderschöne und abweisende. Bergsteigen erfordert eine 100-prozentige Anwesenheit im Geist, in der Emotion und im Körper.
Und wann wird für dich ein Berg zu einem echten „Kraftplatz“?
Es ist ein Platz, an dem ich mich mit der Natur vollkommen verbunden fühle und in mir absolute Stille einkehrt. Es ist diese Stille, aus der ich enorme Kraft schöpfen kann.
Die sportliche Leistung? Die Schönheit der Natur? Der Abstand zur Zivilisation oder etwas anderes – was waren und sind für dich die größten Triebfedern im Bergsport?
Allem voran steht für mich ganz klar die Schönheit der Berge und die achtsame Begegnung mit der Natur. Die unendlichen Aus- und Tiefblicke von den hohen Bergen, die Abgeschiedenheit – und sich dabei als Mensch völlig auf ein Minimum an Materiellem zu reduzieren.
Welche Rolle spielen in deinem Leben als Höhenbergsteigerin Emotionen wie Angst oder das viel zitierte Gipfelglück?
Emotionen spielen eine große Rolle. Unter anderem ist die emotionale Selbstkontrolle ein wesentlicher Bestandteil des Überlebens am Berg. Denn in kritischen Situationen ist es wichtig, den Überblick zu bewahren und sich nicht in emotionaler Angst zu verlieren. Und natürlich ist das Zurückkehren ins Basislager nach dem Erreichen eines Gipfels mit tiefster Freude und Glück verbunden.
Was zählt mehr: das Erreichen des Gipfels oder das Bewältigen des Weges dorthin?
Es ging mir bei meinen Expeditionen immer um das gesamte Erlebnis. Damit meine ich, dass der Gipfel immer nur ein Teil davon ist. Zwar ein sehr markanter und ganz wesentlicher Teil des Gesamten, aber wahrhaftig glücklich war ich immer erst, wenn wir gesund ins Basislager zurückgekommen sind. Schwierige Besteigungen stellten mich vor Herausforderungen technischer, emotionaler und mentaler Art. Das habe ich auch genossen – und tue ich immer noch. Die Bewältigung der Herausforderungen erfüllte mich mit größter Zufriedenheit und, ja, auch mit einem Glücksgefühl.
Welche Rollen spielen die Menschen in deinem sportlichen Leben?
Ich habe immer große Freude an der Teamarbeit. Zum Team gehören nicht nur wir Bergsteigerinnen und Bergsteiger, sondern es gibt immer ein Zusammenwirken von vielen Menschen. Es ist wirklich schön, zu erleben, dass jeder Einzelne, ob Koch, Meteorologe oder Bergsteiger, mit seiner ganz individuellen Kompetenz zu einem gemeinsamen Erfolg beiträgt.
Deine Autobiografie, die heuer neu aufgelegt wurde, heißt „Ganz bei mir“. Du beschreibt das Gefühl, das du hast, wenn du auf den hohen Bergen unterwegs bist. Kannst du dieses Gefühl kurz erklären?
Das „Ganz-im-Jetzt-Sein“ ist damit gemeint. Bergsteigen in großer Höhe verzeiht keine Unachtsamkeit. Und das Bergsteigen ist mein Weg, ganz im Jetzt anzukommen und voll fokussiert zu sein.
Bergsport boomt ungemein, immer mehr Menschen zieht es, auf unterschiedlichste Weise, in die Berge. Wandernd, mit dem Bike, auf Klettersteigen oder mit der Seilbahn – hast du eine Erklärung für diesen Boom?
Das zunehmende Interesse an der Begegnung mit der Natur finde ich gut. Aber es tut mir im Herzen weh, wenn ich erlebe, wie achtlos manchmal mit der Natur umgegangen wird. Es wäre so wichtig, dass die Menschen – egal, bei welchem Berg-Erlebnis – sich respektvoll durch die Natur bewegen.
Gibt es eine Hauptmessage, die du den Menschen, die Freude in und an den Bergen haben, vermitteln willst?
Es freut mich zutiefst, wenn es mir gelingt, die Menschen zu inspirieren und zu motivieren, der Natur wieder mehr und mit großem Respekt zu begegnen.
Kann man sagen, dass alles, was die Berge dir als Spitzensportlerin geben, in irgendeiner Form auch auf Menschen ohne Leistungsambitionen zutreffen kann?
Mit Sicherheit! Es geht ja nicht darum, Berge mit aller Kraft zu „erobern“. Es geht darum, sie zu „erleben“!
Und hat sich deine Einstellung und dein Empfinden zum „Kraftplatz Berg“ im Verlauf deines Lebens irgendwann schon einmal verändert?
Nein. Berge waren, sind und bleiben meine Kraftplätze, wo ich mich immer ganz zu Hause fühlen werde.
DIE WELTKLASSE-BERGSTEIGERIN
Gerlinde Kaltenbrunner, geb. 1970 in Kirchdorf an der Krems (OÖ), gehört zu den erfolgreichsten Höhenbergsteigerinnen weltweit. Zwischen 1998 und 2011 bestieg die Oberösterreicherin alle 14 Achttausender-Gipfel der Welt, als dritte Frau überhaupt – und als erste Frau ohne künstlichen Sauerstoff. Im Mai 2015 gab sie bekannt, dass sie die Achttausender nicht mehr als ihre Ziele betrachtet. Stattdessen will sie sich „wunderschönen niedrigeren Bergen, die abgelegen sind und auch Herausforderungen darstellen“, zuwenden.
Weitere Infos: www.gerlinde-kaltenbrunner.at
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