Ein Jahr lang hat er an seinem Comeback gearbeitet. Nun ist das deutsche Slalom-Ass Felix Neureuther zurück in der Spur. Und will noch einmal alles geben – damit die Hundertstel auf seiner Seite sind.
Felix, aus aktuellem Anlass müssen wir dich leider fragen, was mehr weh tut: der gebrochene Daumen oder die Tatsache, dass dein Comeback nach Sölden und Levi ein weiteres Mal aufgeschoben werden musste?
Beides ist schmerzlich. Du sitzt frisch operiert im Krankenhaus und siehst im Fernsehen, wie die anderen das Rennen fahren. Ich habe lange auf ein Comeback hingearbeitet, mich gut gefühlt, und dann kommt der Daumen. Heute Nacht hat’s geschneit, draußen ist blauer Himmel, da willst du einfach nur raus! Stattdessen geht’s in die Reha. Aber es gibt Schlimmeres.
Werden auch bei einem Daumenbruch alle Register der Medizin gezogen? Oder ist das eher bei schwerwiegenden Verletzungen der Fall?
Es wird alles aufgefahren, die Maschinerie läuft! Bei einer Kreuzbandverletzung brauchst du Zeit. Beim Daumen zählt von Anfang an jeder Tag. Lymphdrainagen, die Wundheilung steht im Fokus. Vier Tage nach der OP wird bereits mit Stoßwellentherapie gearbeitet, damit der Knochen so schnell wie möglich zusammenwächst. Und ich endlich angreifen kann.
Nach Kreuzbandriss und einjähriger Pause gehst du in eine ungewisse Saison. Du hattest schon mehrfach Comebacks nach Verletzungen. Was ist diesmal anders?
Ich kann entspannter damit umgehen. Früher hat mich eine Verletzung härter getroffen und länger beschäftigt. Heute komme ich nach Hause und werde von einem kleinen Mädel begrüßt. Dem ist es vollkommen egal, ob der Papa Ski fährt oder nicht.
Bist du im Nachhinein sogar dankbar, dass du aufgrund der Verletzung nach der Geburt deiner Tochter Mathilda so nahe bei deiner Familie sein konntest?
Die Zeit zu Hause war unbeschreiblich schön. Außerdem war es wichtig für mich, zu sehen, wie ich überhaupt damit klarkomme, keine Rennen zu fahren. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie es nach meiner Karriere aussehen wird. Auch wenn die Verletzung natürlich bitter war. Ich hatte alles mobilisiert, ohne den Kreuzbandriss wäre es vielleicht meine letzte Saison gewesen. Meine Trainer, die Physios, der Servicemann, sie alle hatten so viel Zeit investiert. Und dann macht’s ‚Peng‘ – und alles ist anders.
Plötzlich geht’s nicht mehr um Hundertstel, sondern um Monate: Wie lange braucht man, um sich darauf einzustellen?
Das zieht sich. Geduld ist nicht meine Stärke. Aber du musst es sportlich nehmen und um jeden Tag fighten, den du früher am Start bist. Wenn du es schneller schaffst, als die Ärzte es vorhergesagt haben, ist das auch ein schöner Erfolg.
Du hast zuletzt davon gesprochen, nach deiner Verletzung „neue Wege“ finden zu wollen, um zu siegen. Was für Wege sind das?
Wenn du dir eine ganze Saison am Bildschirm ansiehst, kann das durchaus inspirierend sein. An Marcel Hirscher und Henrik Kristoffersen konnte man sehen, dass sie ihren Siegeswillen in jeden Schwung legen. Ich habe viel mit meinen Trainern gesprochen und daran gearbeitet, meine Linienführung zu optimieren.
Kann man das so einfach umstellen?
Einfach nicht. Aber eine solche Umstellung kann genau die Chance sein, die sich aus einer Verletzung ergibt. Gewohnte Bewegungsabläufe haben über einen längeren Zeitraum nicht stattgefunden. Das eröffnet dir die Möglichkeit, alte Fehler abzustellen und den Körper von Grund auf neu zu justieren.
Hast du dich im Laufe deiner Karriere schon öfter grundlegend verändert?
Immer wieder! Zuerst vom Lebemann zum Profisportler. Und dann habe ich vom Ausscheiden auf Durchkommen umgestellt, zum konstanten Skifahrer. Es gibt immer wieder Momente, die etwas in dir auslösen und dich nach vorne bringen.
Die Anzahl der Siege ist nicht entscheidend. Es geht um besondere Momente.
Bruchteile einer Sekunde entscheiden über Sieg oder „nur“ Podest. 34 Mal warst du Zweiter oder Dritter in einem Weltcuprennen. Gehen dir diese Hundertstel nicht auf die Nerven?
Manchmal schon. Ich habe mal wegen einer Hundertstelsekunde die Slalom-Kugel verpasst. Aber das musst du akzeptieren, der andere war eben besser. Hundertstel sind gleichzeitig Fluch und Segen. In erster Linie sind sie allerdings gerecht. Und wer mehr dafür tut, wird am Ende die Hundertstel auf seiner Seite haben.
Ist ein zweiter Platz mit 0,01 Sekunden Rückstand besonders viel wert? Oder ist dir ein deutlicher Rückstand zum Ersten lieber, weil’s einen dann nicht so ärgert?
Ehrlich gesagt, ärgere ich mich nicht besonders über zweite Plätze. Aber klar, wenn es um eine Hundertstel geht, dann bist du auf der Suche, wo du sie verloren hast. Wenn du mit einer vollen Sekunde Rückstand Zweiter bist, dann sagst du dir einfach nur: Okay, alles klar ...
An welche Hundertstel erinnerst du dich spontan?
Das war diese eine in Schladming 2014. Ich habe geführt, Marcel kam eine Hundertstel vor mir ins Ziel und hat sich damit den Slalom-Weltcup geholt. Aber ganz ehrlich: Heute ist das gar nicht mehr so wichtig. Wegen dieser Hundertstel bin ich heute kein anderer Mensch.
Nach der Vertragsverlängerung von Felix Neureuther mit Nordica sind auch Geschäftsführer Luka Grilic (links) und Rennsportchef Bernie Knauss happy.
Das Schicksal hat dir den Jahrhundertläufer Marcel Hirscher als Konkurrenten beschert. Hat er dich maßgeblich gepusht? Oder wär’s dir ohne Marcel doch lieber gewesen?
Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich gegen ihn fahren konnte. Ohne ihn hätte ich niemals mein heutiges Niveau erreicht. Außerdem hätte ich doch nur schneller Ski fahren müssen, um ihn öfter zu schlagen. Wenn du schneller als Marcel warst, dann weißt du jedenfalls, dass du den Sieg wirklich verdient hast.
Du bist mit 13 Weltcupsiegen der erfolgreichste deutsche Skirennläufer. Zufrieden mit dem Erreichten? Oder hungrig auf mehr?
Meine 13 Weltcupsiege sind jetzt auch nicht so das Brett. Viele Fahrer haben mehr erreicht. Ich hätte mehr gewinnen müssen, das weiß ich auch. Aber ich bin dennoch zufrieden. Nach wie vor lebe ich meinen Traum des Profi-Skifahrers. Davon träumen viele. Außerdem ist die Anzahl der Siege nicht entscheidend. In 20 oder 30 Jahren werde ich mich nicht als geiler Typ fühlen, weil ich eine bestimmte Anzahl an Rennen gewonnen habe.
Worauf kommt es an?
Es geht um besondere Momente. Das sehe ich an meinen Eltern. Wenn die sich mit Kollegen von früher treffen, ist vollkommen egal, wer was gewonnen hat. Alle sind gleich. Sie sind ehemalige Skifahrer, die wegen ihrer Geschichten von damals vor Lachen unter dem Tisch liegen.
Das Ende deiner Karriere wird kommen. Wo wirst du dann an den Start gehen?
Mir ist meine Stiftung sehr wichtig, mit der ich Kinder zu mehr Bewegung animieren möchte. Als Sportler kannst du nicht nur viel für dich erreichen, sondern auch für andere. Es geht nicht um Weltcupsiege. Es geht um das, was du für andere bewirkt hast.
So wie Alberto Tomba viel bei dir bewirkt hat?
Er war mein großes Idol, hat mir viel Motivation und Energie geschenkt.
Und einmal einen Kaugummi, den du gar nicht mehr hergeben wolltest ...
Das war im Auto meines Vaters, der Alberto zum Flughafen gefahren hat. Ich war ein kleiner Junge, konnte nur Deutsch, aber wir haben uns trotzdem verstanden. Die ganze Fahrt über hat er Blödsinn gemacht, es war so lustig. Am Ende hat er mir dann diesen Kaugummi geschenkt. Alberto Tomba war mein Hero. Durch ihn weiß ich, wie wichtig es ist, dass Kinder Vorbilder haben, um sich selbst große Ziele zu setzen – und diese eines Tages zu erreichen.