Die Eisschwimmer von Murmansk. In der russischen Hafenstadt nördlich des Polarkreises ist ein Streit entbrannt. Die Eisbader kämpfen um ihre fast 60 Jahre alte Blockhütte am Semjenowskoje See. Sie wollen keine Modernisierung und schon gar kein Museum.
Von Alexandre Sladkevich
Die nördlich des Polarkreises gelegene Hafenstadt Murmansk auf der russischen Halbinsel Kola erwacht aus der Dämmerung, von der Sonne geweckt. Die Polarnacht liegt hinter ihr. Der Auftritt der Sonne löst Melancholie und Depression endlich ab. Auf den Straßen lassen sich manche Einwohner beobachten, die vor Freude lächeln und sogar die Arme gen langersehnten Himmelskörper strecken. Doch der feurige Stern steht noch nicht im Zenit. Er verbirgt sich lieber hinter den Bergen. Nur unwillig überwindet er sie, um dann alles in ein Gelb-Orange zu tauchen, und der Himmel antwortet in strahlendem Blau. Die ersten sonnigen Tage treiben die Eisbader zum Semjenowskoje See. Auf dem vereisten Gewässer drehen Langläufer ihre Runden, beobachten neugierig die Eisbader und plaudern gerne mit ihnen.
Doch es ist noch so kalt, dass selbst die Finger an der Kamera einfrieren und sie sich nur mühevoll auslösen lässt. Ein Bader hat jedoch ein Rezept parat: „Schwimmen Sie mit, tauchen Sie ein, das wird Sie schnell erwärmen!“ Ich verzichte darauf und ernte kein Verständnis. So dick eingepackt, meint er, bevorzuge ich es wohl lieber zu frieren. Eine Dame nähert sich auf Skiern. Sie plaudert mit dem Polarbader über das Wetter, die Wassertemperatur und natürlich über die Sonne. Vor 54 Jahren wurde hier am Ufer anstelle einer Bude eine Blockhütte für die Eisbader erbaut. Seit über einem halben Jahrhundert ziehen sich die Murmansker hier um und wärmen sich drinnen nach ein paar Runden im eiskalten Wasser. Die Liebhaber des arktischen Gewässers sehen ihr Häuschen als historisches Erbe der Stadt. Auch fanden hier bereits die Weltmeisterschaften im Eisschwimmen und der Arctic Cup statt.
Im September 2018 wurde die hiesige Gesellschaft „Morsch“, die knapp 300 Mitglieder zählt, vom Gerücht erschüttert, dass die Stadt eine Modernisierung plant. In der Folge deren solle ihre Hütte ans andere Ufer verlegt oder gar abgerissen werden. Das löste Unruhen aus. Die Hütte, die von Dutzenden Fotografen festgehalten wurde und die sich im Gedächtnis von Tausenden Menschen eingeprägt hat, wird auch als eine Sehenswürdigkeit am authentischen Platz verstanden. Es folgte eine Versammlung am See, bei der eine Petition an die Stadtverwaltung unterschrieben wurde. Die Antwort, dass die Eisbader eine moderne Unterkunft erhalten werden und das Häuschen, das man doch nicht abreißen wollte, zum Eisbader-Museum umfunktioniert wird, stimmte niemanden glücklich. Die Extrembader wollen ihre Hütte traditionell weiter nutzen und kein Museum daraus machen.
Später teilte die Stadtverwaltung von Murmansk mit, dass alles beim Alten bleibt. Jedoch fühlen sich die Morschi, zu Deutsch Walrosse, wie die Eisbader auf Russisch bezeichnet werden, nicht zuversichtlich. Eine Eisbaderin meint: „Einen neuen Badekomplex werden sich nur die Reichen leisten können. Wir haben hier 300 Mitglieder, die nur 250 Rubel (vor der Corona-Pandemie waren es umgerechnet etwa 3,40 Euro) monatlich zahlen. Es ist bequem für uns, es gibt genug Raum und auch eine Haltestelle. Wir brauchen doch kein Museum, wie soll man überhaupt ein Museum errichten?“ Sie zeigt uns den Umkleideraum. An der Wand hängen die alten Schwarzweißfotos, die unter anderem auch die jungen Eisbader im Schulalter zeigen. „Das ist bereits ein Museum, mehr kann man hier nicht rausholen“, meint die Frau. Doch die Frage bleibt offen.