Jörn Heller, von Montane unterstützter Bergsteiger ­und Bergführer, hat vor Jahrzehnten in Patagonien einen Rekord aufgestellt. Dort in Südchile ist heute der Klimawandel noch sichtbarer als in anderen Teilen der Welt.

Christof Domenig
Christof Domenig


Jörn, du hast gemeinsam mit Robert Jasper 1994 mit der ersten Eintagesbesteigung am Cerro Torre einen Rekord aufgestellt. Was kommt dir davon in den Sinn, wenn du dich zurückerinnerst?
Zunächst dass wir sehr jung waren. Und offensichtlich waren wir auch sehr leistungs- und leidensfähig. Der Rekord ist eigentlich unbeabsichtigt entstanden. Wir hatten schon acht vergebliche Versuche am Berg und beim neunten Mal haben wir gesagt, wir setzen alles auf eine Karte. Wir gehen es nicht mehr klassisch an und biwakieren in einer Schneehöhle, sondern klettern die ganze Nacht durch. So ist das entstanden. Rund um Mitternacht waren wir am Gipfel. 

Der Eintrag eurer damaligen Leistung findet sich heute auf Wikipedia übrigens unter dem großen Begriff „Bergsteigen“  wieder ...
Echt? Das wusste ich gar nicht. Es war auf jeden Fall mit einer hohen Leidensfähigkeit verbunden, beim letzten Teil hatte ich echt die Schnauze randvoll. Diese ganze Eigendynamik, die sich daraus entwickelt hat, hat letztlich dazu geführt, dass wir auf den Gipfel gekommen sind. Wir waren auch keine drei Minuten oben, dann haben wir uns schon wieder an den Abstieg gemacht. Morgens um fünf kam tatsächlich der nächste Sturm, wir sind gerade noch rechtzeitig zur Biwakhöhle gekommen.

Ebenfalls mit Robert Jasper, ebenfalls in Patagonien, aber fast 30 Jahre später hast du dich auf die Spuren des Klimawandels begeben. Ihr habt, von einem TV-Team begleitet, ein Wissenschafterteam dorthin geführt, weil die Auswirkungen der Klimaveränderung in diesem Teil der Welt noch viel dramatischer sind. Was hatte es, in Kurzform, damit auf sich?  
Es war ein Projekt, das sich über drei Jahre hinzog, aufgrund von Covid jedoch zwei Jahre komplett blockiert war. Unser Auftrag war, einen Klimaforscher der Berliner Humboldt-Universität auf das nördliche patagonische Eisfeld zu bringen, auf einer Route, die auch für Laien gangbar sein würde. Wir sind dazu mit Packrafts über einen großen Gletschersee gepaddelt. In der Realität hat sich herausgestellt, dass der Gletschersee, den wir von den Jahren vorher schon kannten, mittlerweile fast zehnmal größer geworden war. Stundenlang sind wir zwischen Eisbergen gepaddelt und haben letztlich vergeblich versucht, einen Zugang auf den Gletscher zu finden. Rein wissenschaftlich gesehen war allein das beeindruckend und authentisch und hatte schon eine hohe Aussagekraft.

Wie alles ablief und letztlich ausging, kann man im Sommer in einer Fersehdokumentation im ZDF sehen – aber abgesehen von der Größe des Sees: Woran sieht man in dieser Region die Auswirkungen des Klimawandels? 
Um es in den Worten des Professors zu sagen: Während bei uns die Gletscher stark am Schrumpfen sind, sind sie auf der Südhalbkugel am Zerfallen. Der Gletscher ist buchstäblich in den See reinzerfallen und löst sich auf; die Wassermengen, die dort stündlich abgeflossen sind, sind unvorstellbar. Aus meiner Laiensicht betrachtet – ich war elf Mal in Patagonien: Es ist beeindruckend, wie schnell die Veränderungen sind, und es potenziert sich jetzt von Jahr zu Jahr. Auch bei uns in den Alpen. Die Menschen, die in Patagonien leben, haben etwa massiven Wassermangel und sehr stark mit den Umständen zu kämpfen.

Welche Gefühle hast du da, wenn du das alles vor Ort siehst?
Vor Ort kann ich mir Gefühle kaum leisten, da sind wir zu sehr im Tun und fokussiert. Aber generell, und das ist in meiner Arbeit als Bergführer in den Alpen auch nicht anders: Es macht mich einerseits sehr demütig, auch ein kleines bisschen traurig. Auf der anderen Seite weiß ich: Der Natur ist es egal. Das Problem haben wir, die Menschheit, da kommt vieles auf uns zu. Die Dynamik hat eine riesige Geschwindigkeit angenommen.

Gibt es dennoch etwas, das dir bei dem Thema Hoffnung macht?
Wie gesagt: Der Natur ist es egal, die passt sich daran an. Es ensteht immer Neues, die Natur geht ihren Weg.

Seit der Coronazeit ist eine große Sehnsucht der Menschen nach dem Draußensein zu spüren. Ist das eine Chance, Menschen für die Natur zu sensibilisieren, dass viele die Berge für sich entdecken?
Ich sehe es definitiv als Chance, mehr Menschen zu sensibilisieren, dass wir die Natur nutzen, aber auch schützen sollten und müssen. Es ist auch schön, dass Menschen die Natur entdecken und sich bewegen wollen. Die Kehrseite der Medaille – aber es steht mir eigentlich nicht zu, das zu kritisieren, denn wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen schmeißen ... 

Was wäre dennoch diese Kehrseite?
Mit Bergsport und Outdoorsport als Massenphänomen ist der Druck auf die Natur noch größer geworden. Zielgruppen, die das erst in den letzten Jahren entdeckt haben, haben außerdem eine andere Herangehensweise an den Bergsport. Mein Eindruck ist, früher hat man sich das sukzessive erschlossen und in vielleicht zehn Jahren war es das Ziel, einmal auf den Mont Blanc zu gehen. Jetzt läuft es nach dem Motto: „Heute Führerschein, morgen in der Formel 2 mitfahren“. Das ist der Trend, den ich die letzten 20 Jahre schon wahrnehme – und das hat sich jetzt noch einmal verstärkt. 

Woran merkt man das?
Man sieht es etwa auch daran, dass nicht nur viel mehr Menschen in die Berge gehen, sondern dass wir erheblich mehr Blockaden haben. Es geht tatsächlich selten um echte Notfälle, sondern ein hoher Prozentsatz der Einsätze von Bergrettern sind Blockaden. Das lässt den Schluss zu, dass der heute von vielen gewählte Ansatz ein anderer ist und vielleicht nicht so der Respekt vor den Bergen da ist – oder das Bewusstsein, dass die Natur immer stärker sein wird. 

Vor 20, 30 Jahren war mir der Themenkomplex 'Demut' gar nicht bewusst. Heute spielt er eine sehr große Rolle.

Jörn Heller, deutscher Bergsteiger ­und Bergführer

Außer Bergführer bist du auch Diplompädagoge – was würdest du den Menschen hier gern weitergeben?
Ich denke, jeder muss seinen eigenen Weg finden, aber wichtig ist schon: In der Ruhe liegt die Kraft. Alpinistisch betrachtet kann eine Portion Demut nicht schaden. Gerade in dem Sinne, dass infolge des Klimawandels massive Veränderungen im Gange sind, die uns Kompetenzen abverlangen, die man sich nur über viele, viele Jahre, die man im Gelände unterwegs ist, aneignen kann.

Wenn du Menschen am Berg führst – was versuchst du konkret zu vermitteln?
Generell ist mein Ansatz die „Kunst der Berührung“. Wenn jemand nur einmal durchschnauft und sagt: „Wow, das ist gigantisch hier“, dann habe ich schon gewonnen. Generell ist es mir wichtig, dass ich versuche, die Menschen auf Dinge aufmerksam zu machen, die mir selbst wichtig sind. Man entwickelt ein recht gutes Gespür dafür, ob sie überhaupt dafür empfänglich sind. Das andere ist, dass mein Ansatz, wenn ich mit anderen in den Bergen unterwegs bin, ein sehr transparenter ist: Ich versuche alles, was ich tue, zu erklären. Also: In einer ernsten Situation gibt es nichts zu diskutieren, hinterher schon. Und das mache ich schon vorher klar, weil das auch viel Druck von mir selbst nimmt. Ich weiß natürlich, was ich tue, aber ich mache auch Fehler.

Du lernst also auch selbst nach wie vor viel in den Bergen dazu?
Ich habe das Gefühl, je länger ich in den Bergen unterwegs bin, mit desto offeneren Augen bin ich unterwegs. Ich sauge auf wie ein Schwamm. Ich denke nicht, dass ich die ganz großen Dinge noch lerne, es sind Dinge zwischen den Zeilen, aber die machen es letztlich aus. Vor allem mache ich auch immer mal Fehler, das ist menschlich – das nagt dann auch an mir, aber da lerne ich dann am meisten daraus. In der Auseinandersetzung und Reflexion, aus Gesprächen mit Kollegen, aber auch mit Kunden.  

Inwiefern hat sich in den rund 30 Jahren seit damals am Cerro Torre dein Blick auf die Berge verändert?
Ich gehe an Dinge ganz anders heran. Einerseits nüchterner, andererseits habe ich die Bilder von Tausenden Tagen im Kopf, die es mir ermöglichen, alles mit mehr Ruhe und Gelassenheit anzugehen. Definitiv gibt es einiges, was ich gemacht habe, was ich heute so nicht mehr machen würde. Ich hatte dabei auch das Glück, das andere nicht hatten, dass der Kelch an mir vorübergegangen ist. Vor 20 oder 30 Jahren war mir außerdem dieser Themenkomplex „Demut“ gar nicht bewusst, heute spielt der für mich eine große Rolle. Ich habe das Gefühl, ich werde jeden Tag demütiger und lerne dazu – und das gibt mir noch viel mehr Handlungsfreiheit.

Was wünschst du dir noch in der ­Natur und den Bergen?
Viele schöne Erlebnisse. Das ist auch ein Unterschied zu früher, da stand die Leistung im Vordergrund – schneller, schwerer, weiter. Jetzt nehme ich alles drum herum sehr viel mehr wahr. Das ist eine große Bereicherung. Das versuche ich auch weiterzugeben, wenn ich mit Menschen unterwegs bin. Die Begeisterungsfähigkeit ist auch bei mir in den letzten Jahren immer noch größer geworden, am Ende ist das die Energie, die mich antreibt.

Die Augen weit offen: Bergsteiger Jörn Heller über Rekorde in Patagonien und den Klimawandel
Jörn Heller

Geboren 1968 in Pforzheim (D), ist einer der besten deutschen Berg- und Skiführer und erfahrener Extrembergsteiger. In den französischen Alpen, etwa im Gebiet von Chamonix, tragen einige Routen seinen Namen.

Bergsteigerisches Neuland betritt er regelmäßig auf seinen Expeditionen mit Robert Jasper. Mit diesem gemeinsam und von einem Kamerateam des ZDF begleitet, führte Heller 2022 Wissenschafter nach Patagonien in Südchile, die dort die Auswirkungen des Klimawandels erforschten. Eine 30-minütige Dokumentation über diese Expedition ist im kommenden Sommer in der  ZDF-Reihe „Planet e“ zu sehen.

Web: www.joern-heller.de