Nicht, dass man das Erlebnis Berlin-Marathon steigern müsste. Eine Million Zuschauer, 44.000 Läufer und der Lauf durchs Brandenburger Tor sind Adrenalin-Lieferant genug. Trotzdem ist das Gefühl in einer Gruppe noch einmal besser – wie der Selbstversuch zeigt.
Nieselregen, 13 Grad, Straße des 17. Juni in Berlin. Aus den Boxen „Conquest of Paradise“, im Rücken das Brandenburger Tor und vor der Brust: 42,195 Kilometer, Berlin-Marathon. Das ist die Geschichte von Angelika und Marko, von Franz und Dieter, von Andrea und Teresa sowie von Sascha. Im Leben haben sie nichts miteinander zu tun, kommen aus Klosterneuburg, Wien, Graz, der Weststeiermark und dem südlichen Niederösterreich. Sind in der Immobilienbranche, bei den ÖBB, gehen zur Uni oder vertreiben aufblasbare Whirlpools. Das sportliche Großereignis ist die Fahne, unter der sie sich sammeln. Im übertragenen Sinn. Im wörtlichen Sinn ist es die rot-weiß-rote, die Andreas Perer jetzt zum Start des Marathons schwingt. Er hat die Gruppenreise organisiert, sich um Transfer, Programm und Hotel gekümmert und – das wichtigste – als Partner des Marathons die Startnummern gecheckt. Perer organisiert Sportreisen aus Leidenschaft, ist in New York gelaufen und natürlich auch in Berlin. Er weiß daher, was Läufer brauchen und wollen. Tipps zur Strecke zum Beispiel. „Freut euch auf den Platz am Wilden Eber, dort ist immer eine mörderische Stimmung“, sagt Perer. „Und passt auf: Das Brandenburger Tor ist nicht das Ziel. Von dort sind es noch knapp 200 Meter.“ Ansonsten wiederholt er beim Frühstück, beim Aktivieren am Samstag und auf der Busfahrt zum Start mantra-artig die Devise: „Genießt die Stimmung und die letzten paar Hundert Meter. Für dieses Gefühl trainieren wir.“
LAUFEN MIT 44.000 ANDEREN
Und ein bisschen schon auch für die Zeit. Die meisten wollen unter vier Stunden bleiben. Angelika hat dafür zum Debüt mit ihrem zukünftigen Mann Marko einen privaten Pace-Maker wie sonst nur die Superstars Eliud Kipchoge und Vorjahressieger Kenenisa Bekele. Lokführer Franz aus Stadlau hat das gleiche Ziel. „Auch wenn das Training aufgrund kleinerer Verletzungen nicht ganz optimal gelaufen ist“. Andrea will die Schallmauer gemeinsam mit ihrer Tochter Teresa knacken. Sascha wiederum schaut „gar nicht auf die Uhr. Ich höre einfach auf meinen Körper und schaue, was geht“. Das Hineinhören in sich hat sich der Niederösterreicher bei so elementaren Erfahrungen wie einem 160-Kilometer-Traillauf angeeignet. Bleibt noch Dieter, ÖBB-Fahrdienstleiter aus Graz. „Der Franz hat mich überredet“, erzählt er. Dabei mag er eigentlich keine Massenaufläufe. „Am liebsten lauf ich für mich allein.“ Na bravo, mehr Kontrast geht nicht. Knapp 44.000 stehen jetzt am Start.
Ein Schuss fällt. Zumindest sieht man das auf den Leinwänden. Denn der letzte Startblock ist so weit von der Startlinie entfernt, dass der Knall gar nicht mehr zu hören ist. 88.000 Laufschuhe trappeln los über den Asphalt, der Siegessäule entgegen und dann vorbei am Regierungsviertel, über die Spree, weiter in den Osten der Stadt, den Alexanderplatz lässt die Masse rechts liegen. Bei der Hälfte der Distanz künden die Österreich-Fahnen von Perer und dem Begleiter-Tross von einem Motivationsschub – besser als jedes Power-Gel. Weiter, immer weiter. 39, 40, 41 Kilometer geschafft. Jetzt die letzte Linkskurve und die 500 Meter für die wir alle trainiert haben. Durchs Brandenburger Tor, ein paar Schritte noch, Zieleinlauf. „Glück ist das einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt“, hat Albert Schweitzer gesagt. Im Zielgelände vor dem Reichstag füllen die Marathonläufer dieses Zitat mit Leben. Männer und Frauen liegen sich in den Armen, stoßen an, feiern. Franz posiert im Captain-America-Shirt, Sascha jubelt mit Angelika. Jeder erzählt, jeder hört zu, das Adrenalin tropft den meisten lange nach dem Zieleinlauf noch aus den Ohren. Auch Andrea kann wieder lachen. Das Experiment mit den Power-Gels hat ihr statt Energie und Bestzeit nur Übelkeit gebracht, dafür ist ihre Tochter in 3:47 angekommen. Übrigens 53 Minuten vor mir, dem laufenden Schreiber. Andreas Perer schwingt immer noch die Fahne, wartet auf alle Teilnehmer der Gruppe, setzt sie ins Fahrrad-Taxi zur S-Bahn. Auf der Finisher-Party am Abend im Hotel rennt der Schmäh wie in der Früh die Beine. Viele haben die wuchtige Medaille um den Hals, alle ein breites Grinsen im Gesicht. Auch Ruefa-Reiseleiter Perer freut sich mit den Finishern. Und freut sich auf Ende Oktober. Da will er in Dublin die Lust der letzten Meter wieder selbst auskosten.