Ob es auf der Alm tatsächlich keine „Sünd“ gibt, das sei dahingestellt. Wohlverdienten Ausgleich zu den „Unwegsamkeiten“ des Alltags findet man hoch über dem Tal aber allemal.

Lukas Schnitzer
Lukas Schnitzer

And into the mountains I go, to lose my mind and find my soul – eine abgedroschene Botschaft, die eine Hundertschaft von Motivationspostern und bedruckten Shirts dem schottisch-amerikanischen Naturphilosophen John Muir anzudichten versucht. Im Original sprach er doch von Wäldern, nicht Bergen, in die er ging, um sich selbst zu verlieren und seine wahre Seele wiederzufinden. Doch egal, wie man Muirs Worte auch auslegt, im tiefsten Inneren bleiben sie in ihrer Wahrheit nichts schuldig. Denn nirgendwo werden die Probleme des Alltags so klein und nichtig, werden Stress und Hektik so leise wie tief drinnen im Wald, hoch droben in den Bergen und im Schoße saftiger Almwiesen. Man ergänze die Ruhe und Gelassenheit noch um die Gemütlichkeit und Kulinarik uriger Berghütten, das gleichmäßige Gebimmel vereinzelter Kuhglocken und in der Ferne blökende Schafe – und schon ist man mittendrin im eigentlich gar nicht so neuen Konzept der Almtouren.

Schon meine Groß- und Urgroßeltern zog es zum Wochenende in die Berge. Das Ziel war stets die gemütliche Hüttenrast, das Bier in der Sonne, das Diperl (Weißwein mit Rotem Kracherl) auf der Terrasse und die herzhafte lokale Kulinarik zwischen Käse und Speck aus eigener Produktion bis Kaiserschmarren und Marillenkuchen. Die steigende Dichte an Forststraßen ließ diese sanfte Art des „Wanderns“ schließlich auch für die ersten Mountainbiker attraktiv erscheinen. Je nach Strecke und Tempo genussvoll oder herausfordernd hoch zur Alm, oben eine kurze Auszeit vom Alltag, mit dem Blick weit über das Tal und tief in die Berge. Und dann je nach Angebot rasant auf Forststraßen zurück zum Ausgangspunkt, weiter zur nächsten Alm oder über Trails ins Glück. Ein Konzept, das 2022 für Gravelbikes genauso funktioniert wie für Hardtails, Touren- und Enduro-Bikes und die boomenden E-Mountain­bikes. Im Genuss, so scheint es, finden sie alle zueinander.

Schroffe Berge, tiefe Wälder, sanfte Almen – das Rezept zum Glück kann so einfach sein.

Überhaupt scheint mit dem E-Bike für viele die Hemmschwelle für Almtouren – die ja auch stets mit ordentlich Höhenmetern verbunden sind – gefallen zu sein. Peter Donabauer, Geschäftsführer vom TVB Filzmoos, sieht hier teils bereits einen Anteil von über zwei Dritteln an E-Bikern. Und auch für die Ferienregion Dachstein-Salzkammergut, so erklärt es Christopher Unterberger, Projektleiter Biken und Wandern beim hiesigen TVB, waren die E-Bikes ein Gamechanger, machten sie doch Skihütten plötzlich für Radfahrer attraktiv. Seit den 1980er-Jahren hat die Region um den Dachstein bikende Gäste auf den Almen, aktuell erlebt man aber auch hier einen enormen Aufschwung.

Nicht nur, aber auch für E-Bikes
Klar, denn mit dem E-Bike rücken nicht nur größere Touren für eine breitere Zielgruppe in greifbare Nähe – sondern sehr oft auch die Geselligkeit und der Genuss in den Fokus. Einheimische kommen dank elektrischem Rückenwind auch nach Feierabend noch locker auf den Berg. Und aktive Feriengäste und Familien ohne große „Berghärte“ finden in ihrer Urlaubswoche neben Wandern und Wellness zunehmend auch Gefallen daran, mit E-Bikes ihren Aktionsradius am Berg und über besagte Almen zu erweitern. Angepasst an die „neuen“ Gäste gehören Ladestationen für müde Akkus oben am Berg vielfach einfach schon dazu. Allerdings kann und soll nicht überall auf Biegen und Brechen mit Generatoren Strom für E-Bikes erzeugt werden, drängt Unterberger auf die Forcierung von Photovoltaik auch für Ladestationen.

Sehr differenziert und wohl auch geprägt von der heimatlichen Topografie sieht unser Expertenrat die Frage nach den Parametern der perfekten Almtour. Bernd Waldauer, Brandmanager bei NLW Touristik Marketing und als solcher verantwortlich für die Region Nassfeld-Pressegger See – Lesachtal – Weissensee, hat einen recht klaren Anspruch an die Strecken. Geht es nach ihm, dürfen es gerne auch mal an die 1000 Höhenmeter sein, im besten Fall auf einsteigerfreundlichen Forststraßen. Für Roman Ellinger, seines Zeichens Veranstalter des „eldoRADo Bike & Run“-Festivals in der Ferienregion Hohe Salve, steht die konditionelle Herausforderung im Fokus, da können dann auch 1500 Höhenmeter zusammenkommen, um an die schönsten Flecken zu gelangen. Unterberger legt den Sweetspot um die 800 Höhenmeter und 30 Kilometer, Hauptsache landschaftliche Highlights und tolle Ausblicke säumen den Weg. Im Mix aus E- und normalen Bikes sieht Donabauer Touren um die 20 bis 30 Kilometer mit rund 500 und ein paar mehr Höhenmetern als beliebte und entsprechend gern frequentierte Wahl. Für den Filzmooser gehören auch legal befahrbare Almböden und Trails – für die, die danach suchen und die entsprechenden Fertigkeiten mitbringen – sowie einfache (Flow-)Trails mit zum Konzept. Wie weit und wie hoch man sich dann tatsächlich in die Almtour stürzt, sei dann aber wohl noch jedem selbst überlassen. Kundiges Personal im Hotel, beim Bikeverleih oder dem jeweiligen TVB gehen Einsteigern bei der Planung meist mehr als gerne zur Hand.
 

Konditionelle Herausforderung mit lohnender Einkehr oder genussvolles Gleiten – jeder Gusto findet seine Tour.

Roman Ellinger, Veranstalter des „eldoRADo Bike & Run“-Festivals

Auf Trails zurück ins Tal?
Donabauer und sein Team haben erkannt, was in ganz Österreich aktuell ein Thema zu sein scheint und auch vor der Klientel der entspannten Almbiker nicht haltmacht: „Mit dem Können und der Routine der Bikerinnen und Biker wächst naturgemäß auch der Wunsch nach attraktiven (Flow-)Trails. Und jede moderne Bikeregion tut gut daran, diesem Wunsch auch zu entsprechen, um ‚wildes‘ Biken möglichst zu unterbinden.“ Besagtes „wild“ bezieht sich hier weniger auf den Fahrstil denn auf die Legalität des Trails. Mit dem gezielten Angebot legaler und attraktiver Angebote schaffen es Regionen quer durchs Land bereits erfolgreich die Bikeströme zu kanalisieren, sprich weg von illegalen Steigen und Wanderwegen hin zu offiziellen Routen zu lenken. Am Runden Tisch haben sich so Landwirte, Grundbesitzer und Biker geeinigt – und vielfach lässt sich das dabei entstandene Netz an legalen Trails auch perfekt mit Almtouren und entsprechender Hüttenrast kombinieren. Die Nachfrage nach Trails besteht und wird in den kommenden Jahren weiter wachsen, prognostiziert auch Unterberger.

Alles eitel Wonne?
Mit der zunehmenden Zahl an „neuen“ Bikern sieht Ellinger aber auch Bedarf, aufzuzeigen, was eigentlich im gemeinsamen Miteinander klar sein sollte, oft aber leider verloren gegangen zu sein scheint. „Wenn man Wanderern begegnet, sollte es selbstverständlich sein, langsamer zu werden – auch auf breiten Forststraßen. Und der gegenseitige Respekt sollte auch Almbesitzern und Weidetieren entgegengebracht werden. Leider haben viel zu viele Freizeitsportler keinerlei Respekt vor Almvieh (und Weideflächen, Anm. d. Red.)“, mahnt der erfahrene Biker. (E-)Bikern, die plötzlich weitaus höher kommen, als sie es gewohnt sind, legt er ein Fahrsicherheitstraining nahe. Gerade beim Bremsen haben Einsteiger und Ältere oftmals Probleme. Hier sollte man zur eigenen Sicherheit in ein Fahrtechniktraining investieren. Dann wird die Almtour auch sicherlich zum vollen Genuss.