Mit dem Fahrrad gegen die Jogginghose. Oder: Wie man mit täglich 20 Fahrradkilometern an 20 Tagen in Serie seine Motivation wiederfindet.
Ich habe die Kontrolle über mein Leben verloren, um mit Karl Lagerfeld zu sprechen. Ich habe mir eine neue Jogginghose gekauft und trage sie nicht nur zum Sport. Corona hat sich in mein Leben geschlichen, drückt zwischen Kontaktbeschränkung, nächtlicher Ausgangssperre und Lockdown auf die Stimmung. Killt jegliche Motivation. Hinzu kommt eine mehrwöchige sportliche Zwangspause nach einem Beinbruch. Die ist zwar, Gott sei Dank, mittlerweile vorbei. Geblieben jedoch ist eine ungute Mischung aus Motivationslosigkeit und Bequemlichkeit. Ausreden, warum Sport wieder nicht ins Tagesprogramm passt, werden täglich kreativer.
Eigentlich bin ich ein bewegungsorientierter, sportlicher Mensch und fahre leidenschaftlich gerne Rad. Darum setzte ich mir meine eigene, ganz private Challenge. 20 x 20 soll mir die Motivation und damit die Kontrolle über mein Leben zurückbringen. Der Vorsatz: 20 Tage je 20 Kilometer Rad fahren, egal, ob es zeitlich passt, egal, ob ich Lust darauf habe, bei Sonne oder Regen, trotz der für die nächsten Wochen angesagten Minusgrade mit Schneefall. Schaffe ich das? Ich schaffe das!
„Im Sport ist es ganz wichtig, sich realistische Ziele zu setzten, passend zum persönlichen Fitness- und Gesundheitszustand. Gerade bei Challenges geht es nicht darum, sich kaputt zu sporteln“ empfiehlt Eva Helms die SMART-Formel. Um sportliche Ziele zu konkretisieren. „Das hilft Freizeitsportlern genauso wie wettkampforientierten dranzubleiben.“ Die 51-Jährige ist als Sportmentalcoach und Resilienztrainerin mit Schwerpunkt Triathlon unterwegs und weiß, wovon sie spricht. Als Mutter von vier Kindern kam sie über Umwege relativ spät, aber sehr erfolgreich selbst zum Sport. Hat 2012 den Ironman auf Hawaii gefinished und 2013 den Titel der deutschen Altersklassen-Meisterin auf der Mitteldistanz geholt und mit einer Ausbildung zum Sportmentalcoach persönliche Erfahrungen und fundiertes Wissen vor rund fünf Jahren zum neuen Beruf gemacht: Sportmentalcoaching.
Gerade bei Challenges geht es nicht darum, sich kaputt zu sporteln.
S = spezifisch, M = messbar, A = attraktiv, R = realistisch, T = terminiert...
...erklärt die Fachfrau in Sachen Motivation, wofür die SMART-Formel steht. Im beschriebenen Selbstversuch ist das Mountainbike das spezifische Sportgerät, die 20 Kilometervorgabe der messbare Faktor. Dass ich vom Radlvirus besessen bin, macht die Sache für mich attraktiv und 20 Kilometer täglich schätze ich auch mit einem noch im Heilungsprozess befindlichen Beinbruch als realistisch ein. Dass ich exakt 20 Tage lang täglich aufs Rad steigen will, terminiert das selbst gesetzte Ziel.
Anfang Februar tausche ich erstmals die Jogginghose gegen den Raddress und spule bei angenehmen 11 Grad die ersten 20 Kilometer ab. Ein Kinderspiel. Bis an Tag zwei Schnürlregen einsetzt. Ich suche mir auf dem Regenradar die hellblauste Tageszeit und starte trotzdem. Nach einer Viertelstunde notiere ich auf dem inneren Einkaufszettel: Regenhose, vielleicht doch nicht nur für Weicheier? Oben hält die Regenjacke trocken, die Schuhe stecken in Neoprenüberziehern und mit jeder Kurbelumdrehung steigt die Motivation. Die nasse Hose stört irgendwann so wenig, dass ich am Ende 40 Kilometer fahre. Doch: Schlimmer geht immer. In den folgenden Tagen merke ich, dass die Herausforderung dieser Motivations-Challenge eine ganz andere ist, als im Sommer, wenn es auf dem Rennrad darum geht, während einer Tour Kilometer im dreistelligen Bereich zu sammeln und den Schnitt nach oben zu treiben. Bei 20 x 20 liegt die Herausforderung darin, täglich aufs Rad zu steigen, den inneren Schweinehund zu überwinden und die persönlich gesteckten Ziele auch bei tiefkühlkalten Minusgraden und Schneefall umzusetzen. Der Regenfahrt folgen Fahrten bei Schneefall auf geschlossener Schneedecke und Temperaturen bis –7 Grad.
Als einige Tage später wärmere Temperaturen untertags in Kombination mit knapp zweistelligen Minusgraden nachts zu fiesen Eisplatten auf der Straße führen und ich das Rad zum wiederholten Mal um eine der Eisplatten lenke, kämpft die zurückgekehrte Motivation gegen die Vernunft. Einerseits möchte ich unbedingt auch heute die 20 Kilometer fahren, andererseits wäre es definitiv vernünftiger abzubrechen, statt Sturz und Verletzung zu riskieren. Doch in meinem Kopf hat sich ein kleiner Kerl namens Besessenheit breitgemacht, der mir immer wieder einflüstert: Aufgeben ist wie versagen. Fahre langsam, aber zieh die 20 Kilometer auch heute durch!
Wenn das Hirn auf Erfahrung und vertraute Muster zurückgreifen kann, geht es auch schneller.
„Es gibt keine öffentliche Skala für Versagen“, ermutigt Sportmentalcoach Eva Helms dazu, wenn es angesagt ist, die Vernunft über die sportlichen Ziele zu stellen. „Realismus und das richtige Risikobewusstsein sind ein guter Maßstab. Wenn das Hirn signalisiert, umdrehen wäre besser, dann sollte man das auch tun. Das ist kein Versagen“, erklärt sie und fügt an, die Grenze zwischen Motivation und Besessenheit läge dort, wo die Gesundheit bedroht sei. Eine solche Bedrohung könne ebenso in äußeren Rahmenbedingungen wie in Übertraining liegen. Schlimmstenfalls mit langfristigen Schäden und sportlicher Zwangspause.
Mir ersparen steigende Temperaturen erneutes Abwägen zwischen Vernunft und Motivation. Und das tägliche Aufs-Rad-Steigen wird zur Halbzeit der Challenge so selbstverständlich wie das Zähneputzen. Wenn ich nicht bereits vormittags los kann, fehlt mir etwas. „Rein neurobiologisch braucht es sechs Wochen, bei drei bis vier wöchentlichen Wiederholungen, bis sich neue Gewohnheiten etablieren und die Synapsen im Hirn neue neuronale Netzwerke bilden“, erklärt Eva Helms wie Regelmäßigkeit, in Kombination mit Freude über das erfolgreich Erreichte und der daraus resultierenden Dopaminausschüttung dazu führen, dass Neues zu einer Selbstverständlichkeit im Alltag wird. „Wenn das Hirn auf Erfahrung und vertraute Muster zurückgreifen kann, geht es auch schneller“, erläutert sie, „wie auch die Tatsache, dass ich schon lange und viel Rad fahre, bei meiner 20 x 20 Challenge bereits früher zur Gewohnheitsbildung führt.“
„Darüber hinaus wirkt sich die tägliche Herausforderung auch jenseits des Sports positiv aus. Ich bin wieder strukturiert, motiviert und allgemein leistungsfähiger. Ich habe die Kontrolle über mein Leben zurück. Die Jogginghose wird nach erfolgreichem Abschluss der 20 x 20 Challenge nur zum Sport getragen. Das Rad bleibt der fast tägliche Begleiter für deutlich längere Touren. Trotz Corona, Lockdown und fehlender Möglichkeit als Reisejournalistin unterwegs zu sein, sehe ich das Positive: Noch nie hatte ich so viel Zeit, schon Anfang März über 1500 Kilometer auf den Tacho zu radeln.“